Im Asyl
Unsere Reichshauptstadt ist in ihrer Feiertagsstimmung grausam gestört worden. Gerade hatten fromme Gemüter das schöne alte Lied angestimmt: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! als sich die Nachricht verbreitete, daß im städtischen Asyl für Obdachlose eine Massenvergiftung vorgekommen war. Alte und Junge fielen ihr zum Opfer: Handlungsgehilfe Joseph Geihe, 21 Jahre alt, Arbeiter Karl Melchior, 47 Jahre alt, Lucian Szczyptierowski, 65 Jahre alt – jeden Tag kamen neue Listen der vergifteten Obdachlosen. Der Tod fand sie überall: im Asyl, im Gefängnis, in der Wärmehalle oder einfach auf der Straße, in einer Scheune verkrochen. Bevor das neue Jahr mit Glockengeläute eingezogen war, wanden sich anderthalbhundert Obdachlose in Todesschmerzen, hatten siebzig das Zeitliche gesegnet.
Mehrere Tage lang stand das schlichte Gebäude in der Fröbelstraße, das sonst jeder gerne meidet, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Woher kamen die Massenerkrankungen? War es eine Epidemie, war es eine Vergiftung durch den Genuß fauler Speise? Die Polizeibehörden beeilten sich, die gute Bürgerschaft zu beruhigen: Es war keine ansteckende Krankheit, das heißt, es lag keine Gefahr vor für die anständige Einwohnerschaft, für die besseren Leute in der Stadt. Der Massentod blieb nur auf die „Asylistenkreise“ beschränkt, auf die Leute, die sich den Genuß „sehr billiger“, stinkender Bücklinge oder giftigen Fusels zu Weihnachten geleistet hatten. Woher hatten die Leute aber jene stinkenden Bücklinge genommen? Hatten sie sie von einem „fliegenden Fischhändler“ gekauft oder aus dem Kehricht in der Markthalle aufgelesen? Letztere Mutmaßung wurde abgelehnt aus einem gewichtigen Grunde: Der Abfall in den städtischen Markthallen ist nicht, wie sich oberflächliche und natio-