Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 85

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nalökonomisch ungebildete Leute vorstellen, herrenloses Gut, das sich der erste beste Obdachlose aneignen dürfte. Dieser Abfall wird gesammelt und an große Schweinemästereien verkauft, wo er, erst sorgfältig desinfiziert und vermahlen, als Futter für die Schweine dient. Wachsame Organe der Markthallenpolizei sorgen dafür, daß menschliches Gesindel hier nicht den Schweinen ihr Futter unbefugterweise wegschnappt, um es undesinfiziert und unvermahlen zu verschlingen. Die Obdachlosen konnten also unmöglich, wie sich mancher das so leicht denkt, ihren Weihnachtsschmaus aus dem Kehricht der Markthalle aufgelesen haben. Die Polizei fahndet demnach nach dem „fliegenden Fischhändler“ oder dem Budiker, der den Obdachlosen den Giftfusel verkauft hat.

Ihr ganzes Leben lang hatten Joseph Geihe, Karl Melchior, Lucian Szczyptierowski nicht so viel Aufmerksamkeit mit ihrem bescheidenen Dasein erregt. Jetzt – welche Ehre! Wirkliche Geheime Medizinalräte wühlen eigenhändig in ihren Gedärmen. Der Inhalt ihres Magens, der der Welt so durchaus gleichgültig gewesen war, wird jetzt peinlich geprüft und in der ganzen Presse besprochen. Zehn Herren – hieß es in den Zeitungen – sind mit der Züchtung von Reinkulturen des Bazillus beschäftigt, an dem die Asylisten gestorben sind. Die Welt will auch genau wissen, wo jeder Obdachlose erkrankte: ob in der Scheune, wo er tot von der Polizei aufgefunden wurde, oder schon im Asyl, wo er vorher übernachtet hatte. Lucian Szczyptierowski ist plötzlich zu einer gewichtigen Persönlichkeit geworden, und er würde sich sicher vor Eitelkeit blähen, läge er nicht als übelriechende Leiche auf dem Seziertisch.

Ja selbst der Kaiser – der gottlob durch die jüngste Teuerungszulage von drei Millionen Mark zu seiner Zivilliste[1] als preußischer König wenigstens vor dem Ärgsten bewahrt ist – erkundigte sich angelegentlich nach dem Befinden der Vergifteten im städtischen Obdach. Und seine hohe Gattin ließ in echter Weiblichkeit durch den Kammerherrn von Winterfeldt dem Oberbürgermeister Kirschner ihr Beileid ausdrücken. Der Oberbürgermeister Kirschner hat zwar von dem faulen Bückling trotz dessen Billigkeit nichts genossen und befindet sich nebst Familie in ausgezeichneter Gesundheit. Auch ist er unseres Wissens mit Joseph Geihe und Lucian Szczyptierowski weder verwandt noch verschwägert. Aber schließlich – wem sollte der Kammerherr von Winterfeldt das Beileid der Kaiserin ausdrücken? Vor den Leichenteilen auf dem Seziertisch konnte er nicht gut die Grüße der Majestät ausrichten. Und die „trauernden Hinterbliebenen“? Wer kennt sie, wer findet sie in den Spelunken, Fin-

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[1] Siehe S. 74, Fußnote 1.