Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 134

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/134

Eine Verteidigung oder eine Anklage?

I

Leipzig, 15. März

In einer Zeit, die uns Erscheinungen von dem Maßstab des internationalen Bergarbeiterstreiks[1] bringt, fällt es eigentlich etwas schwer, sich auf Auseinandersetzungen über eine Materie einzulassen, die mit der Größe der Zeit recht wenig in Einklang steht. Doch müssen gerade aus Rücksicht auf die großen Anforderungen, die der Gang der Entwicklung mit jedem Tage mehr an die Auffassung und die geistigen Horizonte der Partei stellt, auch die taktischen Differenzen in unsern Reihen ausgefochten und zur Klärung gebracht werden. So soll wenigstens in den wichtigsten Punkten die Verteidigung unsres Stichwahlabkommens mit dem Fortschritt[2], die im „Vorwärts“ vom 5., 6. und 7. März in einer langen Artikelserie veröffentlicht worden ist[3], einer Prüfung unterzogen werden.

Die Verteidigung legt ihr Hauptgewicht auf die allgemeine Situation, aus der das Abkommen entstanden ist. Der Vorstand trieb – wie wir auch annahmen – nicht etwa simple Mandatsgeschäfte, er verfolgte vielmehr gewisse politische Zwecke von allgemeiner Bedeutung, er handelte aus einer gewissen Auffassung der politischen Konstellation in Deutschland heraus, und mit dieser Auffassung steht und fällt das Stichwahl-

Nächste Seite »



[1] Im Frühjahr 1912 standen in mehreren europäischen Ländern Millionen Bergarbeiter im Streik für höhere Löhne und für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Größeren Umfang nahm der Kampf in England und Deutschland an, wo eine Million bzw. 250 000 Arbeiter beteiligt waren und teilweise Polizei und Militär gegen die Streikenden eingesetzt wurde, ohne daß es gelang, die Kampffront zu brechen. In England wurde die Regierung zu einem Kompromiß gezwungen und beschloß innerhalb ungewöhnlich kurzer Zeit ein Gesetz über Mindestlöhne für Bergarbeiter; im Ruhrrevier in Deutschland endete der Streik dagegen mit einer Niederlage der Arbeiter, da die Gewerkschaftsführer gegen den Willen der Bergarbeiter den Streik abbrachen.

[2] Siehe S. 91, Fußnote 3.

[3] Unser Stichwahlabkommen. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 54, 55 und 56 vom 5., 6. und 7. März 1912.