Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 246

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Taktische Fragen

I

Leipzig, 26. Juni

Wollte man zusammenstellen, was in den jüngsten Tagen an taktischen Anregungen und Betrachtungen in unsrer Partei geäußert worden ist, so käme ein gar unstimmiges Konzert zustande. Auf der einen Seite rufen Vertreter und Befürworter der Kompromißtaktik, wie Frank[1] und Breitscheid unter Zustimmung des Bochumer „Volksblattes“, dringend zum Massenstreik auf, anderseits erklärt ein Parteiblatt, das auf radikalem Standpunkt steht, wie die Essener „Arbeiterzeitung“, der politische Massenstreik sei in Deutschland für absehbare Zeit undurchführbar, wir wären noch nicht entfernt reif und gewappnet für derartige Unternehmungen. Während mehrere Organisationen wiederum fordern, daß der nächste Parteitag „die planmäßige Erziehung der Arbeiterklasse zum politischen Massenstreik“ in die Wege leite, ja daß allmählich mit der vorbereitenden Sparaktion nach belgischem Muster[2] begonnen werde, erklären andre, wie Genosse Meerfeld in der „Neuen Zeit“[3], die Phase des politischen Massenstreiks sei für unsre Bewegung längst vorbei, der Deutsche tauge überhaupt zum Massenstreik so ungefähr wie der Bär zum Seiltanzen.

Zwei Tatsachen treten aus diesem Durcheinander hervor. Erstens, daß die Idee des Massenstreiks jedesmal von selbst auftaucht und instinktiv in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt wird, sobald die Partei das Bedürfnis empfindet, ihre Aktion vorwärtszubringen, der Stagnation zu wehren, Macht zu entfalten. Zweitens ist ebenso unzweideutig sichtbar,

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[1] Da die Arbeitermassen nach neuen Kampfmitteln drängten, sah sich der Referent der Versammlung, der badische Opportunist Ludwig Frank, gezwungen, den Massenstreik als Kampfmittel für die preußische Wahlrechtsreform anzuerkennen.

[2] Am 14. April 1913 begann in Belgien ein politischer Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht, der seit Juni 1912 durch ein spezielles Komitee organisatorisch, finanziell und ideologisch im ganzen Lande sorgfältig vorbereitet worden war. An dem Streik beteiligten sich etwa 450 000 Arbeiter. Am 24. April 1913 beschloß der Parteitag der belgischen Arbeiterpartei den Abbruch des Streiks, nachdem sich das belgische Parlament dafür ausgesprochen hatte, die Reform des Wahlrechts in einer Kommission erörtern zu lassen.

[3] J. Meerfeld: Nachdenkliche Betrachtungen. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 398–401.