Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 356

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Zur Spaltung in der sozialdemokratischen Dumafraktion

Wie wir erfahren, hat die Genossin Rosa Luxemburg dem Internationalen Sozialistischen Büro im Auftrage der Sozialdemokratie Polens und Litauens, die sie im Büro vertritt, am 14. d. M. den folgenden Antrag unterbreitet:

„Wir beantragen, auf die Tagesordnung der Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros am 14. Dezember d. J. in London zu setzen: die Frage der Wiederherstellung der Einigkeit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands.

Die Dringlichkeit dieser Frage erscheint begründet nicht bloß durch das Chaos und den Fraktionskampf, der die seit zwei Jahren kräftig erwachte Massenbewegung in Rußland schwer zu kompromittieren und zu schädigen geeignet ist, sondern auch durch folgende Tatsachen:

  1. die soeben in frivoler Weise herbeigeführte Spaltung der sozialdemokratischen Dumafraktion, die das letzte Organ der sozialdemokratischen Einigkeit in Rußland war;[1]

  1. das systematische Schüren der Spaltung seitens der Leninschen Gruppe auch in den Reihen anderer sozialdemokratischer Organisationen, wie in der Sozialdemokratie Russisch-Polens und Litauens;[2]

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[1] Die sozialdemokratische Fraktion der IV. Reichsduma setzte sich aus sieben Menschewiki und sechs Bolschewiki zusammen. Die Menschewiki nutzten die Mehrheit von einer Stimme aus und behinderten in jeder Weise das Auftreten der bolschewistischen Abgeordneten und die Durchsetzung einer revolutionären Parlamentstaktik. Da die wiederholte Forderung der Bolschewiki nach Gleichberechtigung beider Teile der Fraktion abgelehnt worden war, konstituierten sich die sechs bolschewistischen Abgeordneten im Auftrag des ZK der SDAPR im Oktober 1913 als selbständige Fraktion unter dem von W. I. Lenin vorgeschlagenen Namen „Sozialdemokratische Arbeiterfraktion Rußlands“.

[2] In der Periode der Konterrevolution in Rußland 1908 bis 1911 hatte der SDAPR durch die Strömung der Liquidatoren die Gefahr der Auflösung gedroht. In dieser Zeit löste sich der Hauptvorstand der SDKPiL, der seinen Sitz in Berlin hatte, von der SDAPR, da er die Aufgaben für eine revolutionäre Partei in dieser Situation nicht erkannte. Er zeigte prinzipielle Schwankungen, nahm eine Position zwischen der SDAPR und den Liquidatoren ein und isolierte sich von den Organisationen in Polen. Im Sommer 1912 erklärte er die Warschauer Organisation der SDKPiL, die sich gegen die fehlerhafte Politik des Hauptvorstandes gewandt hatte, für aufgelöst und nicht mehr zur SDAPR gehörig mit der Begründung, in diese Organisation hätten sich Spitzel eingeschlichen und die Spaltung der SDKPiL betrieben. Gegen diese Unterstellung protestierte W. I. Lenin als Vertreter der SDAPR am 31. August 1912 in einem Brief an das Internationale Sozialistische Büro und erklärte u. a., daß der Hauptvorstand der SDKPiL nicht das Recht habe, zu entscheiden, wer zur SDAPR gehöre, da er selbst weder mit dem von Lenin vertretenen, auf der Januarkonferenz 1912 gewählten Zentralkomitee der Partei noch mit dem Zentrum der Liquidatoren in organisatorischer Verbindung stehe.