Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 380

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Die alte Programmforderung

Wie jedesmal ist die sozialdemokratische Fraktion auch jetzt wieder auf dem Posten, um bei den Verhandlungen über das Reichsamt des Innern das düstere Bild des sozialen Elends zu entrollen. Hier steigen jedesmal aus dem dunklen Schacht der kapitalistischen Ausbeutung schwarze Schatten empor, um der bürgerlichen Gesellschaft den unter ihren Füßen gähnenden Abgrund zu zeigen. Vorgänge wie Zabern[1] sind die Blüten und Früchte. Hier, bei den Verhandlungen über Sozialpolitik, werden die Wurzeln bloßgelegt, aus denen der Giftbaum der heutigen Klassenherrschaft seine Säfte saugt. Maßlose, zuweilen 36stündige Arbeitszeit; Millionen Überstunden, am physischen und geistigen Leben der Massen gestohlen; Plackerei am Werktag und am Sonntag; das rücksichtslose Abrackern weiblicher und jugendlicher Kräfte bis ins zarte Kindesalter hinab; furchtbare Steigerung der Unfälle, die das Arbeitsfeld jährlich für Hunderttausende in ein Siechenhaus, für Zehntausende in einen Friedhof verwandeln; ein Heer von Antreibern, die jeden Atemzug der gequälten Proletarierbrust mit Basiliskenaugen des profitgierigen Kapitals überwachen; die modernste Technik – der Triumph des Menschen über die Natur – verwandelt in das grausamste Mittel, den Menschen dem toten Fabrikautomaten zu unterjochen und seine Arbeit zur Tortur zu gestalten; Heimarbeit, die die Hölle der kapitalistischen Blutsaugerei mitsamt ihrem Schmutz bis in den armseligen Wohn- und Schlafraum der Proletarierfamilie trägt, mit ihrem ekelhaften Abfall und Staub das bescheidene Mahl auf dem Tische der Erwachsenen besudelt und den Proletariersäugling in der Wiege vergiftet; endlich die moralischen Mißhandlungen der Schöpfer allen Reichtums durch diejenigen, die den Reichtum an sich

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[1] Im November 1913 war es in Zabern (Unterelsaß) zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur Oberst von Reuter ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und Verhaftungen vornehmen. Diese Vorgänge lösten in ganz Deutschland, selbst bei Teilen des Bürgertums, einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla aus, und der Reichstag mißbilligte nach heftigen Debatten mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte. Oberst von Reuter, gegen den vom 5. bis 8. Januar 1914 vor einem Kriegsgericht in Straßburg verhandelt wurde, wurde von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vorn deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert.