Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 343

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Nach dem Jenaer Parteitag

[1]

I

Was die letzte Jenaer Tagung unserer Partei[2] von den früheren Parteitagen kennzeichnet, ist, daß im Mittelpunkt ihrer Meinungskämpfe nicht mehr theoretischer oder praktischer Revisionismus standen, sondern zwei neue Probleme, aus neuen Situationen geboren. Solange wir die meiste Zeit und Kraft eines Parteitages auf Auseinandersetzungen mit Bernsteinschen „Mißverständnissen“ über Verelendungstheorie, Katastrophentheorie und Freßlegende oder mit süddeutschen Budgetbewilligern und Teilnehmern an monarchistischen Kundgebungen vergeuden mußten – und dies war das Kennzeichen so ziemlich aller Parteitage seit 1898 bis 1910 –, da lief das Resultat schließlich nur auf die Verteidigung des alten Besitzstandes der Partei. Gewiß waren auch jene Auseinandersetzungen kein Zufall, vielmehr ein Symptom des mächtigen Wachstums der Bewegung in die Breite, wodurch ein Teil der Parteigenossen zu Zweifeln an den alten revolutionären Grundsätzen verleitet wurde. Gewiß waren auch jene Debatten von hohem Nutzen und noch mehr von unbedingter Notwendigkeit gewesen, wollte die Partei ihren proletarischen Klassenkampfcharakter nicht preisgeben.

Allein gerade die periodische Notwendigkeit, den alten Besitzstand an theoretischer Klarheit und prinzipieller Festigkeit immer wieder verteidigen zu müssen und so scheinbar auf demselben Fleck zu bleiben, wirkte schließlich niederdrückend und ermüdend auf weite Kreise der Partei. Zumal mußte der theoretische Streit häufig der Masse unserer Genossen lediglich als leerer „Akademikerstreit“, als Haarspalterei erscheinen.

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[1] Dieser Artikel war unter Brüskierung Julian Marchlewskis, des amtierenden Chefredakteurs, Anfang Oktober 1913 von der Redaktion der „Leipziger Volkszeitung“ abgelehnt worden.

[2] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Jena fand vom 14. bis 20. September 1913 statt.