Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 234

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Die zweite Lesung der Wehrvorlage

Leipzig, 11. Juni

Die von unsrer Fraktion gegenüber der Wehrvorlage eingeschlagene Taktik[1] hat mit gutem Fug und Recht eine lebhafte Erörterung in der Parteipresse und den Parteiversammlungen hervorgerufen. Unsre Abgeordneten können sich wohl selbst nur aufrichtig freuen, wenn ihr Tun und Lassen so aufmerksame Teilnahme und eingehende Kritik in breiten Parteikreisen erweckt: Anders ist ja jene normale Fühlung zwischen den Massen und ihren gewählten Vertretern nicht herzustellen, ohne die die Vertreter auch in ihrer parlamentarischen Aktion in der Luft schweben würden. Anderseits handelt es sich diesmal um eine eigentümliche Situation, in der die Fraktion auf eigene Verantwortung eine Entscheidung zu treffen hatte, ohne im ausgefahrenen Geleise bequem „nach Brauch und Sitte“ fahren zu können.

Die Fraktion hatte Ende Mai zu entscheiden, ob der ersten Lesung der Wehrvorlage gleich die zweite folgen oder ob sich an die erste Lesung der Wehrvorlage nun die Verhandlungen über den Wehrbeitrag und die Deckungsvorlage anschließen sollten. Unsre Fraktion entschied sich für den ersteren Weg und entschied damit vorerst den Gang der Dinge. Hat sie damit richtig gehandelt? Hat sie die Interessen der Partei am besten wahrgenommen? Die Antwort hängt unseres Erachtens ganz von der Begründung und den weiter verfolgten taktischen Absichten der Fraktion ab.

Wenn sich unsre Abgeordneten auf den vom Stampferschen Büro[2] und vom „Vorwärts“ vertretenen Standpunkt stellen sollten, wonach alles darauf ankäme, da die Annahme der Wehrvorlage ja schließlich sowieso gesichert sei, mit ihr reinen Tisch zu machen, damit den Nationalliberalen in

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[1] Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10 000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe [dem sogenannten Wehrbeitrag] und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß mit Verweis auf die Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“

[2] Seit September 1903 gab Friedrich Stampfer eine politische Korrespondenz für die sozialdemokratische Presse heraus, die der Verbreitung reformistischer Auffassungen diente. In den letzten Vorkriegsjahren druckten etwa vier Fünftel aller sozialdemokratischen Presseorgane deren Artikel ab.