Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 259

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Der politische Massenstreik. Rede und Schlußwort am 22. Juli 1913 im 1V. Berliner Reichstagswahlkreis

Nach einem Zeitungsbericht

Unter dem gewaltigen Eindruck der großen russischen Revolution im Jahre 1905, wo die Anwendung des Massenstreiks dem russischen Proletariat neben Niederlagen auch Siege brachte, ist in Deutschland das Problem des politischen Massenstreiks diskutiert worden. Die Resolution des Jenaer Parteitages[1] ist ein Niederschlag dieser Diskussion. Die Resolution erklärt den politischen Massenstreik als eine auch in Deutschland anwendbare Waffe des Proletariats. Dann kam eine Zeit, wo die Erörterung dieses Problems zurücktrat. 1910 wurde dann der politische Massenstreik im Zusammenhang mit unseren Aktionen für die Erringung des Wahlrechts in Preußen wieder lebhaft diskutiert. Die Wahlrechtsbewegung von 1910 kam zum Stillstand. Planmäßig sind die Massenaktionen unterbrochen worden.[2] Man hat die Aufmerksamkeit auf die Reichstagswahl des Jahres 1912[3] gerichtet. Die Frage des Massenstreiks verschwand wieder aus der öffentlichen Diskussion. Jetzt erleben wir, daß das Problem des politischen Massenstreiks wieder in Versammlungen, in Kreis- und Bezirkskonferenzen behandelt wird. Auch der Parteitag[4] wird nicht umhin können, ernste Stellung zu dem Problem zu nehmen. Wenn man sieht, welch reges Interesse das Problem des Massenstreiks bei den Parteigenossen findet, wird man nicht annehmen können, daß die ganze Diskussion von einigen Anhängern der Massenstreikidee aufgebracht worden ist. Einer so allgemeinen Diskussion müssen doch Ursachen zugrunde liegen, die in den Verhältnissen wurzeln. Solche Diskussionen entstehen

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[1] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.

[2] Nachdem der sozialdemokratische Parteivorstand, der Geschäftsführende Ausschuß der preußischen Landeskommission und die Redaktion des „Vorwärts“ im März 1910 beschlossen hatten, den Massenstreik nicht im „Vorwärts“ zu erörtern, um angeblich den Elan der Massen nicht zu hemmen, wurde die Wahlrechtsbewegung nach den Demonstrationen im April 1910 abgebrochen, und die Massen wurden auf die nächsten Reichstagswahlen und den parlamentarischen Kampf vertröstet.

[3] Die Reichstagswahlen wurden am 12. Januar 1912 durchgeführt. Die Sozialdemokratie konnte dabei 4,2 Millionen Stimmen gegenüber 3,2 Millionen im Jahre 1907 erringen und die Zahl ihrer Mandate von 43 auf 110 erhöhen. Sie wurde damit die stärkste Fraktion des Reichstags.

[4] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie fand vom 14. bis 20. September 1913 in Jena statt.