Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 199

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/199

eine neue Waffe ihrem Arsenal auf die Dauer einverleibt zu haben, ist es an der Zeit, diese Waffe selbst zu prüfen. Es ist nötig, die Frage zu stellen, ob die Art und Weise, wie der Aprilstreik inszeniert worden ist, nicht selbst schon Keime seiner Unfruchtbarkeit in sich getragen hat und ob das einmalige Experiment nicht eher geeignet ist, zur Revision dieser Taktik als zu ihrer Nachahmung zu ermuntern.

II

Leipzig, 16. Mai Der Massenstreik als Waffe des politischen Kampfes ist in Belgien bereits eine festgewurzelte Tradition. Dem Gebrauch dieser Waffe verdankt das belgische Proletariat die erste Bresche, die es in das Zensuswahlrecht[1] geschlagen hat. Die beiden großen Streiks von 1891 und 1893, die erst die Einsetzung der Wahlrechtskammern und dann die Einführung des Pluralwahlrechts[2] erzwungen hatten, waren aber auch spontane Äußerungen der Kampfstimmung der Partei, sie waren von jenem „stürmischen“ Charakter, dessen Gegenteil der jetzige Aprilstreik mit Vorbedacht werden sollte. Der stürmische Charakter bestand übrigens durchaus nicht darin, daß die streikenden Massen etwa sinnlose Gewalttätigkeiten verübten oder zu solchen auch nur neigten, wie dies indirekt aus der starken Hervorhebung des durchaus friedlichen und gesetzlichen Charakters des jüngsten Generalstreiks durch die belgischen Parteiführer geschlossen werden könnte. Genauso vernünftig und „gesetzlich“ wie im April dieses Jahres benahmen sich die streikenden Wahlrechtskämpfer im Jahre 1891 und 1893 auch. Wenn es in beiden letzteren Fällen dennoch an einigen Orten zu Straßentumulten und Blutvergießen gekommen war, so lag das ausschließlich an dem brutalen und provokatorischen Verhalten des Militärs und der sonstigen Regierungsorgane, die den Streikenden und Demonstranten mit schlotterndem Schrecken im Gebein und mit grimmigem Haß im Herzen entgegentraten. Der „stürmische“ Charakter jener beiden kurzen und siegreichen Streiks lag denn auch nicht etwa in sinnlosen, von Arbeitern verübten „Ungesetzlichkeiten“, sondern darin, daß diese Massenstreiks Äußerungen einer entschlossenen, frischen und freudigen

Nächste Seite »



[1] Das Zensuswahlrecht ist ein beschränktes Wahlrecht, bei dem nur Bürger, die bestimmte Wahlzensen erfüllen, wie z. B. Mindesteinkommen, Geschlechtszugehörigkeit, das aktive Wahlrecht besitzen.

[2] Das Pluralwahlrecht ist ein undemokratisches Wahlrecht, bei dem Wähler mit besonderen Voraussetzungen, wie hohes Einkommen, höhere Schulbildung usw., mehr als eine Stimme abgeben können. Gegenüber dem Zensuswahlrecht war es ein Fortschritt.