Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 200

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/200

Kampfstimmung der Partei waren, die keine Schwankungen, kein Zagen, keine Rück- und Vorsichten kannte, die ins Feld rückte, ohne auf andres als auf die eigene Kraft des Proletariats und dessen Druck zu rechnen, und die allerdings bereit war, diesen Druck bis zu den äußersten Konsequenzen zu steigern, die revolutionäre Energie der Massen nötigenfalls zu ihrer vollen Wucht und Wirkung zu entfesseln. Es waren Massenstreiks, bei denen die Partei vom obersten Führer bis zum schlichten Soldat in Reih und Glied marschierte, von derselben freien und kühnen Kampfbegeisterung durchdrungen, völlig eins im festen Glauben an die Notwendigkeit und Wirksamkeit des eigenen Unternehmens.

Eine neue Wendung nahm jedoch die ganze Taktik der belgischen Partei in dem folgenden Jahrzehnt. Nachdem das Pluralwahlrecht der Arbeiterklasse die Tore des Parlaments eröffnet und eine stetig wachsende Zahl von Abgeordneten eingebracht hat, wurde der Schwerpunkt der politischen Aktion – auch des Kampfes um das gleiche Wahlrecht – ins Parlament verlegt. Gleichzeitig – was jedoch nur die andre Seite dieser Erscheinung – tritt ein ganz neuer Faktor, die Allianz mit der liberalen Bourgeoisie, als wichtiges Moment der sozialistischen Taktik auf den Plan. Es ist klar, daß dadurch in der Parteipolitik zwei widersprechende Elemente miteinander verkoppelt wurden: die außerparlamentarische Aktion der Masse und die parlamentarische Allianz mit dem Liberalismus. War der Massenstreik ein bewährtes, populäres, von dem Proletariat hochgeschätztes Kampfmittel, an dem es mit zäher Energie festhielt, so stand ihm von nun an die Rücksicht auf die parlamentarischen Bundesgenossen, die Liberalen, direkt entgegen, sowohl angesichts der allgemeinen, tiefgewurzelten Klassenabneigung der Besitzenden gegen proletarische Massenaktionen wie insbesondere, weil der Massenstreik in erster Linie naturgemäß die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie, also gerade der liberalen Alliierten, empfindlich traf.

Dadurch kam in die Politik der sozialistischen Partei eine gewisse Zwitterhaftigkeit, Unsicherheit und Halbheit. Den deutlichen Ausdruck bekam dieser Zustand in der verunglückten Kampagne des Jahres 1902, wo die Verkoppelung der Streikaktion der Masse mit der liberalen Allianz im Parlament erst die Parteiführer bewogen hatte, die Aktion der Masse nur als Schreckschuß zuzulassen, um sie dann so rasch als möglich nach Hause zu schicken, worauf dann naturgemäß auch die parlamentarische Aktion in sich zusammenbrechen mußte.

Das klägliche Fiasko des Experiments vom Jahre 1902 hat jedoch nicht dazu geführt, die belgische Partei von der verhängnisvollen Bundes-

Nächste Seite »