Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 201

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genossenschaft mit den Liberalen loszulösen und wieder ganz auf die proletarische Aktion zu konzentrieren. Umgekehrt, enttäuscht durch den verunglückten Massenstreik, dessen Unfruchtbarkeit jedoch diesmal in der eigenen Taktik der Partei wohlbegründet war, beschlossen die Parteiführer, sich nunmehr ausschließlich auf die parlamentarische Bühne zu beschränken. Da die Parlamentswahlen auch unter dem Pluralsystem die Vertretung der klerikalen Reaktion immer mehr zusammenschrumpfen ließen, so schien es ein einfaches Rechenexempel, in Geduld und bei ruhiger Agitation den Zeitpunkt abzuwarten, wo die klerikale Mehrheit in Minderheit umschlagen und der sozialistisch-liberale Block auf dem Wege einer schlichten Parlamentsmehrheit die Wahlreform durchführen würde. Die Waffe des Massenstreiks schien nunmehr eine ganz überflüssige und störende, veraltete Methode, die parlamentarische Reform und der „linke Block“ die alleinseligmachende Kirche der Zukunft zu sein.

Diese einfache Rechnung hatte unglücklicherweise, wie alle so einfach scheinenden Spekulationen des Opportunismus, ein großes Loch: Sie rechnete nur mit Zahlen, nicht mit lebendigen Klassenverhältnissen. Und diese letzteren brachten es mit sich, daß der allgemeine Zug der Reaktion, der in Deutschland und überall die jüngste Entwicklung der Bourgeoisie bezeichnet, auch in Belgien sein stilles Werk vollbracht hat. Während die liberale Fraktion im Parlament Arm in Arm mit der sozialistischen um die Wahlreform stritt, kehrte ihr die Bourgeoisie im Lande den Rücken und ergriff in Massen die Flucht – ins klerikale Lager. Das Jahr 1912 wurde in den Blockspekulationen als das Jahr der wunderbaren „Erfüllung“ bezeichnet. Nun, die Parlamentswahlen des Jahres 1912 brachten an Stelle des fest erwarteten Zusammenbruchs der Klerikalen – den Zusammenbruch des Liberalismus und sogar Verluste für die sozialistische Partei, während die klerikale Reaktion mit einer gestärkten Majorität im Triumphe wieder ins Parlament einzog.[1]

Die abermalig zehnjährige Periode der neuen Taktik schloß für die belgische Partei mit einer noch größeren Niederlage als schon im Jahre 1902. Kein Wunder, daß die Wut und der Schmerz der Enttäuschung die Masse der sozialistischen Arbeiter wie mit einem elektrischen Schlag wieder zu ihrer alten bewährten Waffe, zum Massenstreik, greifen ließen. Spontan, wie ein Sturm, erhob sich das belgische Proletariat nach den Wahlen im Juni 1912, um wieder durch eigene Kraft zu erringen, wozu sich die nurparlamentarische Taktik in zwanzig Jahren als völlig unfähig erwies. Doch da trat die sozialistische Fraktion, traten die Führer

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[1] Bei den Neuwahlen zum belgischen Parlament am 2. Juni 1912 hatten die Klerikalen einen Sieg über die zu einem Block zusammengeschlossenen Sozialisten und Liberalen errungen. Dieses unerwartete Resultat, hervorgerufen durch den Übergang eines Teiles der Liberalen, besonders der Großindustriellen, ins klerikale Lager, rief eine gewaltige Empörung unter der Bevölkerung hervor und führte in verschiedenen Städten zu Unruhen und Streiks.