Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 139

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Punkt der Erde und baut ihre breite Basis in die Lüfte. Auf eine solche Lage pflegt aber auch der Sturz zu folgen. Das Stichwahlabkommen, das die Umwälzung der deutschen Verhältnisse herbeiführen sollte, hat versagt. Die herrlichen Perspektiven sind im Reich der Träume geblieben. Das gibt der Verteidiger des Parteivorstands mit dürren Worten zu:

„Das Stichwahlabkommen bot freilich nur die Möglichkeit, daß es so kam, nicht die Gewißheit. Und diese Möglichkeit ist nicht zur Wirklichkeit geworden.“[1]

Der „neue Liberalismus“ hat also ausgelitten. Nach dem 12. Januar geboren, hat er den Anfang des Monats März nicht mehr erlebt. Was die Zukunft betrifft, so gibt der Verteidiger zum Schluß selbst zu, daß sie eine Wiederholung der „erstaunlichen“ Situation wohl nie mehr bringen wird. Also war die ganze himmelstürmende politische Spekulation, auf der das Stichwahlabkommen beruhte, nach eignem Geständnis seines offiziellen Verteidigers eine Eintagsfliege, ein Kartenhaus, eine Luftspiegelung. Und mit solchen windigen Spekulationen, die nicht zwei Monate lang dem tatsächlichen Gang der Dinge standhalten können, vermeinte man, eine historische Erscheinung von dem Maßstab und der Tragweite der deutschen Reaktion zu „zertrümmern“! Solchen Seifenblasen, die beim ersten Hauch zerplatzen, jagen nach den Darlegungen des Zentralorgans Politiker nach, die berufen sind, in einer ernsten geschichtlichen Situation Führer einer Viermillionenpartei zu sein! Wahrhaftig, selten ist ein Verteidiger so zum Ankläger der Sache geworden, deren Verteidigung er übernommen hat.

II

So originell wie in der Begründung des Stichwahlabkommens durch die allgemeine Situation ist die Verteidigung in der Analyse des Inhalts dieses Abkommens. Der Verteidiger im „Vorwärts“ zählt drei Punkte auf, die der Kritik unterzogen worden sind: 1. die Befreiung der fortschrittlichen Kandidaten von der formellen Verpflichtung auf die Bedingungen des Jenaer Beschlusses; 2. die verschleierte Parole der Fortschrittler zu unsern Gunsten; 3. die „Dämpfung“ des Wahlkampfes in 16 Wahlkreisen. Die ersten zwei Punkte erklärt der Verteidiger für belanglos, den dritten aber – wichtigsten und am meisten beanstandeten – gibt er selbst preis. Freilich tut er das erst nach mühevollen Versuchen, den Vorstand auch hier herauszuhauen. Zu diesem Zwecke konstruiert er an Stelle der kon-

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[1] Unser Stichwahlabkommen. In: Vorwärts, Nr. 55 vom 6. März 1912.