Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 140

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kreten „Dämpfung“, wie sie tatsächlich im Abkommen des Parteivorstands festgelegt war, aus freien Stücken eine ganz anders gedachte „Dämpfung“. Diese sollte lediglich darin bestehen, daß wir uns verpflichteten, nicht die konservativen Wähler durch die Lockungen der Agitation auf unsre Seite gegen die Fortschrittler zu bringen:

„Faßt man die ‚Dämpfung‘ der Agitation in diesem Sinne auf, dann verliert sie allen Anstrich eines Verbots der Aufklärung der Massen über unsere Ziele“[1], nämlich deshalb, weil wir – nach der Meinung des Verteidigers des Vorstands – bei den Stichwahlen sowieso keine Aufklärung treiben, sondern nur auf bürgerliche, so auch auf konservative Stimmen spekulieren. Wir glauben, daß diese Auffassung unsrer landläufigen Stichwahlagitation eine ganz unverdiente Kränkung der Masse unsrer Agitatoren im Lande darstellt. Nirgends wird und war unsres Wissens je die Stichwahlagitation von der Sozialdemokratie als ein Stimmenfang gegenüber reaktionären Wählern getrieben. Der einzige Unterschied zwischen Hauptwahlen und Stichwahlen ist naturgemäß der, daß man in der Hauptwahl die Kritik gegen alle gegnerischen Parteien richtet, während sie sich bei der Stichwahl auf den einzigen übriggebliebenen Gegner kon­zentriert. Daraus folgt aber nicht im geringsten, daß die Agitation nicht mehr der Aufklärung der Massen über unsre Ziele dient oder daß wir sie gar den konservativen Wählern – falls diese entscheiden – mundgerecht zu machen suchen. Es wird schon vorkommen, daß unsre Genossen bei der Stichwahl in der Hitze des Gefechts da und dort vergessen, vom Sozialismus, von den Endzielen der Sozialdemokratie mit nötigem Nachdruck zu reden, daß sie sich zu sehr auf die negative Kritik der Gegenwartspolitik und der parlamentarischen Tätigkeit des Gegners beschränken. Daß sie aber je bei der Agitation den konservativen Wählern um den Bart gingen, um sie für uns zu gewinnen, eine solche Annahme wäre auch gegenüber jenen Wahlkreisen eine Ungerechtigkeit, die sonst von rein sozialistischer Aufklärung bei der Wahlagitation sowenig wie möglich Wesens machen. Außerdem gehört eine seltsame Abstraktion von aller Praxis und Erfahrung in der Wahlagitation dazu, um annehmen zu können, unsre Agitatoren wären überhaupt imstande, bei der Bekämpfung der Liberalen die Konservativen durch unsre Agitation zu gewinnen. Fällt doch jeder Hieb dieser Agitation gegen die Fortschrittler von selbst mit verzehnfachter Kraft auf die Konservativen zurück, und es ist unmöglich, irgendeine politische Sünde des Liberalismus zu kennzeichnen, ohne damit die Konservativen mit zu brandmarken.

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[1] Unser Stichwahlabkommen. In: Vorwärts, Nr. 56 vom 7. März 1912.