macht sich Kautsky entgegen den klarsten Worten und der ganzen Tendenz meiner Ausführungen aus freien Stücken ein Zerrbild zurecht, um an ihm seine Dämpfungskunst zu üben und das Vaterland zu retten.
Aber auch in diesem Falle hat der Kampf gegen eingebildete Gefahren die objektive Tendenz, dem aus der Situation geborenen Drang zur wirklichen Fortentwicklung der Parteitaktik in den Weg zu treten. Nichts beweist dies besser als die eigene Theorie Kautskys vom Massenstreik.
II
Kautsky unterscheidet vor allem „verschiedene Typen“ des Massenstreiks, und zwar – nach geographischen Gesichtspunkten. Wie er im Artikel zum dreißigsten Todestag von Marx im „Vorwärts“[1] die originelle Entdeckung gemacht hat, daß es einen deutschen, österreichischen, holländischen, russischen Marxismus gebe, so arbeitet er jetzt mit einem russischen, österreichischen, belgischen Massenstreik – zu dem Zwecke, allen diesen einen ganz neuen Typus des „deutschen Massenstreiks“ entgegenzustellen. Schade, daß diese professorale Schematisierung, die lebendige Zusammenhänge zerfasert, um sie sauber in Schubfächer einer ganz abstrakten Klassifikation einzuordnen, die einfachsten allgemein bekannten Tatsachen ignoriert. Was soll man zum Beispiel für einen „belgischen“ Massenstreik halten, da in Belgien von 1891 bis 1893, 1902 und 1913 total verschiedene „Typen“ des Massenstreiks in Anwendung kamen[2], die zueinander sogar im bewußten Widerspruch stehen? Was soll man für den „italienischen“ Typus halten, da in Italien sowohl politische Demonstrationsstreiks, so gegen den tripolitanischen Krieg[3], wie gewerkschaftlich-politische Kampfstreiks, so der berühmte Eisenbahnerstreik, wie rein gewerkschaftliche Massenstreiks der Landarbeiter wie endlich Sympathie- und Kampfstreiks in einem, wie der siegreiche Mailänder Generalstreik vom Juni dieses Jahres, ausgeführt worden sind?
Vollends unbegreiflich ist, was man unter der „russischen Methode“ verstehen soll, mit der Kautsky heute mit Vorliebe arbeitet. Wer einigermaßen die russische Arbeiterbewegung seit zehn Jahren verfolgt, weiß, daß es keine Art und keinen Typus des Massenstreiks gibt, der dort nicht
[1] Karl Kautsky: Zum dreißigsten Todestag von Karl Marx. 1883 – 14. März – 1913. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 62 vom 14. März 1913.
[2] Durch den Massenstreik von 250 000 Arbeitern in Belgien im April 1893 war die Regierung gezwungen worden, das Zensuswahlrecht (Das Zensuswahlrecht ist ein beschränktes Wahlrecht, bei dem nur Bürger, die bestimmte Wahlzensen erfüllen, wie z. B. Mindesteinkommen oder Geschlechtszugehörigkeit, das aktive Wahlrecht besitzen.) abzuschaffen und das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum einzuführen. (Das Pluralwahlrecht ist ein undemokratisches Wahlrecht, bei dem Wähler mit besonderen Voraussetzungen, wie hohes Einkommen, höhere Schulbildung usw., mehr als eine Stimme abgeben können. Gegenüber dem Zensuswahlrecht war es ein Fortschritt.) – Am 14. April 1902 hatte in Belgien ein Massenstreik von etwa 300 000 Arbeitern zur Verbesserung des Wahlrechts begonnen. Er war am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei, die mit den Liberalen eine Allianz eingegangen war, abgebrochen worden, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren. – Am 14. April 1913 begann in Belgien ein politischer Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht, der seit Juni 1912 durch ein spezielles Komitee organisatorisch, finanziell und ideologisch im ganzen Lande sorgfältig vorbereitet worden war. An dem Streik beteiligten sich etwa 450 000 Arbeiter. Am 24. April 1913 beschloß der Parteitag der belgischen Arbeiterpartei den Abbruch des Streiks, nachdem sich das belgische Parlament dafür ausgesprochen hatte, die Reform des Wahlrechts in einer Kommission erörtern zu lassen.
[3] Am 29. September 1911, dem ersten Tag des italienisch-türkischen Krieges, war von der Leitung der Sozialistischen Partei ein auf 24 Stunden befristeter Generalstreik für Italien ausgerufen worden, dem in vielen Städten des Landes Demonstrationen und Kundgebungen gegen den Krieg vorausgegangen waren.