Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 312

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III

Nicht durch bewußte Anpassung der Organisation und der Taktik an die Massenkämpfe, die eine kommende Situation erfordern wird, gelangen wir zu dem „deutschen Massenstreik“. Dazu führt nach Kautsky der folgende verschlungene Weg. Ein Massenstreik um das preußische Wahlrecht ist erst dann möglich, wenn die Massen in Preußen den Nutzen des allgemeinen Wahlrechts richtig begriffen haben und das Wahlrecht als Lebensfrage für sich betrachten. Dies werden sie erst lernen, wenn sie einen Anschauungsunterricht haben, der ihnen den Nutzen des allgemeinen Wahlrechts vordemonstriert. „Dieser Anschauungsunterricht fehlt, solange das allgemeine, gleiche Wahlrecht zum Reichstag nicht eine Volksvertretung liefert, die für das Proletariat an ‚positiver Arbeit‘ weitaus mehr leistet als das Dreiklassenhaus.“[1] Das war bisher noch nicht der Fall. Der Reichstag hat beinahe so wenig Positives geleistet wie der preußische Landtag. „Aber das kann sich ändern.“ Wenn wir noch mehr Sozialdemokraten hineinkriegen, können wir vielleicht im Reichstag dahin gelangen, „daß wir ihn zu Sozialreformen drängen. Gelänge es, die Praxis im Reichstag so zu gestalten, daß sie den Massen zeigte, das Reichstagswahlrecht besitze für sie großen praktischen Wert [Hervorhebung – R. L.], dann würden sie auch die Wichtigkeit seiner Erringung für den preußischen Landtag begreifen.“[2]

Mit dieser Klappe hätten wir aber sogar zwei Fliegen erschlagen: Die „positiven Errungenschaften“ im Reichstag würden nicht bloß den Massen die nötige Begeisterung zum Kampfe um das preußische Wahlrecht einflößen. Sie würden zugleich die Reaktion zu einem Staatsstreich, zur Kassierung des Reichstagswahlrechts treiben. Und da hätten wir auf einmal Gelegenheit zu zwei „deutschen“ Massenstreiks: einem zur Verteidigung des Reichstagswahlrechtes und einem zur Erringung des preußischen Wahlrechtes.

„Das“, sagt Kautsky, „erscheint mir zur Zeit als der aussichtsreichste Weg, den Massenstreik für den preußischen Wahlrechtskampf vorzubereiten: Nur durch das Wachstum der Bedeutung des Reichstags im Bewußtsein der Volksmassen [Hervorhebung – R. L.] gewinnen sie die Erkenntnis von der Bedeutung des Reichstagswahlrechtes. Der entgegengesetzte Weg der Massenaktionsschwärmer, die Leistungsfähigkeit des

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[1] Karl Kautsky. Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen. In: Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 566 f.

[2] Ebenda, S. 567.