Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 313

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Reichstags und damit des Reichstagswahlrechtes als recht gering hinzustellen, ist der verkehrteste Weg dazu.“[1]

Man weiß nicht, was man zuerst bewundern soll an diesem verwünscht gescheiten taktischen Feldzugsplan, dem an der Stirn geschrieben steht, daß er in der stillen Denkerstube am Schreibtisch ausgeklügelt worden ist. Wir sollen „dazu gelangen“, den Reichstag zu Sozialreformen, zu großartigen Leistungen, zu „positiver Arbeit“ zu bringen! Es ist jetzt nachgerade Gemeingut auch des bescheidensten Agitators der Sozialdemokratie geworden, daß der Reichstag je weiter, je mehr mit Unfruchtbarkeit geschlagen ist, daß er für die Arbeiterklasse immer mehr nur noch Steine statt Brot übrig hat, daß unsere Sozialreform sich je länger, je mehr aus einem Arbeiterschutz in Arbeitertrutz verwandelt – und da sollen wir erst in Zukunft dazu gelangen, von diesem Distelstrauch der bürgerlichen Reaktion die schönsten sozialreformerischen Feigen zu pflücken! Und zwar wodurch? Lediglich dadurch, daß wir noch mehr Abgeordnete in den Reichstag hineinwählen! Noch zehn, noch zwanzig Sozialdemokraten im Reichstag, und auf dem steinigen Boden der Reaktion beginnt allmählich das goldene Kornfeld „positiver Arbeit“ zu wogen! Daß die sozialreformerische Unfruchtbarkeit des deutschen Reichstags, wie übrigens der meisten kapitalistischen Parlamente heute, kein Zufall ist, daß sie nur ein natürliches Produkt der zunehmenden Verschärfung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, daß im Zeitalter zunehmender Kartellierung der Industrie, der scharfmacherischen Arbeitgeberverbände, der Massenaussperrungen und des Zuchthauskurses unmöglich im Parlament ein neuer sozialreformerischer Frühling erblühen kann, daß jegliche „positive Arbeit“ im Parlament mit jedem Jahre aussichtsloser wird in dem Maße, wie der eherne Tritt des Imperialismus alle bürgerliche Opposition niederstampft, dem Parlament jede Selbsttätigkeit, Initiative und Unabhängigkeit nimmt, es zur verächtlichen Jasagemaschine für Militärbewilligungen degradiert – all das verschwindet plötzlich vor dem verklärten Blick Kautskys. Die geschichtliche Erfahrung von fünfzig Jahren parlamentarischer Arbeit, die ganze Summe komplizierter ökonomischer und politischer Faktoren der jüngsten internationalen Entwicklungsphase des Kapitalismus, die zunehmende Verschärfung der Gegensätze auf allen Gebieten – alles das wird offenbar bloß zur boshaften Erfindung von „Massenaktionsschwärmern“, die die Verkehrtheit begehen, vom Niedergang des Parlamentarismus zu reden und den Reichstag despektierlich zu behandeln. Nun, dieser „Verkehrt-

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[1] Ebenda.