Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 414

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/414

Diskussionsbeitrag und Schlußwort am 7. März 1914 in der Protestversammlung gegen die Verurteilung Rosa Luxemburgs in Freiburg i. Br.

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

I

Meine Parteigenossen und -genossinnen! Verehrte Anwesende! Eine schwere Verbrecherin steht vor Ihnen, eine staatlich Geächtete, eine vom Frankfurter Staatsanwalt als heimatlos bezeichnete Frau. Und, Parteigenossen, wenn ich diese schöne Versammlung überblicke, so überschleicht mich neben der Freude, so viele gleichgesinnte Männer und Frauen zu sehen, eine gewisse Wehmut, daß nicht noch ein paar Männer dabei sind in der Versammlung, ich meine – meinen Staatsanwalt in Frankfurt und die Herren Richter aus Frankfurt. Denen hätte ich gewünscht, daß sie gesehen hätten, was sie mit ihrem Urteil angerichtet haben. Parteigenossen! Man hat mich in Frankfurt zu einem Jahr Gefängnis verurteilt[2], weil ich eine nach der Auffassung des Staatsanwalts und des Gerichts verbrecherische Handlung begangen habe. Diese Handlung bestand darin, daß ich den Arbeitern diesseits wie jenseits der Grenzpfähle zugerufen habe: „Du sollst nicht töten!“

Parteigenossen! Im christlich-germanischen Reich ist es ein Staatsverbrechen, wenn man dasjenige Gebot der Nächstenliebe, das von so vielen christlichen Kanzeln als ein Gebot der Kirchenlehre dem Volke gepredigt wird, ernst nimmt und ins Leben einführen will. Denn, werte Anwesende, nichts anderes tat ich in jener Versammlung, für die mir die schwere Strafe zudiktiert wurde, als was jeder Sozialdemokrat für seine Pflicht erachtet: dem Volke durch die einfache Tatsache die Augen zu öffnen, daß es ein verbrecherisches Beginnen ist, Kriege zu führen, Leichenhügel zu errichten, sich gegenseitig zu morden, statt in menschlicher Kultursolidarität, in

Nächste Seite »



[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] Am 20. Februar 1914 wurde vor der 2. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt (Main) ein Prozeß gegen Rosa Luxemburg durchgeführt, weil sie in zwei Versammlungen — in Fechenheim am 25. September 1913 und in Bockenheim am 26. September 1913 — zum Kampf gegen die Kriegsgefahr aufgerufen und die Arbeiter aufgefordert hatte, im Falle eines Krieges nicht auf ihre Klassenbrüder in Frankreich und in anderen Ländern zu schießen. Rosa Luxemburg wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Gegen das Urteil fanden im Februar und März 1914 in vielen Städten Deutschlands Protestkundgebungen statt.