Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 415

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Völkerverbrüderung mit allen Nationen und Rassen der Erde den Fortschritt zu fördern.

Es ist kein Wunder, daß in der heutigen Gesellschaftsordnung es als Verbrechen gebrandmarkt wird, wenn man gegen den Menschenmord, gegen den Völkermord predigt. Wenn Sie sich die Gesellschaftsordnung näher betrachten, in der wir leben, so müssen Sie sich selbst sagen, diese Gesellschaftsordnung beruht ja auf dem organisierten Mord, und es heißt ihr die Lebensbasis entziehen, wenn man gegen den Mord die besten und edelsten Geister der Menschheit aufruft.

Werte Anwesende! Was geschieht jahrein, jahraus auf dem Schlachtfeld der Arbeit, wo Zehntausende jährlich nach der offiziellen Statistik den Tod erleiden? Erst jüngst hat die Statistik uns klargemacht, daß im Jahre 1912 allein 10 300 Unfälle in Fabriken und Werkstätten mit tödlichem Ausgang stattgefunden haben. Und eine Gesellschaftsordnung, die, um wenige zu bereichern, Millionen ausbeutet, ins Joch der Arbeit spannt und Zehntausenden das Leben nimmt durch die rücksichtslose Profitjagd, eine solche Gesellschaftsordnung hat kein Verständnis für die Ideale der Menschheitsverbrüderung und für die Predigt der Sozialdemokratie: „Du sollst nicht töten!“

Dieselbe Gesellschaftsordnung betreibt den systematischen Völkermord als das vornehmste Mittel ihrer politischen Entwicklung, ihres politischen Lebens. Erst jüngst ist von den Regierungen der Balkanstaaten die furchtbare Gesamtsumme der Opfer in jenen Kriegen bekanntgemacht worden, die in kurzer Zeit gefallen sind. Und da hat es sich herausgestellt, daß in Griechenland, der Türkei, Bulgarien, Serbien und Montenegro während des kurzen Krieges 140 000 Menschen gefallen sind.[1] Wir wissen, daß auch Deutschland iii den letzten Zeiten immer mehr und mehr über dem Abgrund einer Kriegsgefahr mit den schrecklichsten Folgen schwebte – erinnern Sie sich bloß der Situation während des Marokkokonflikts[2], wo das Damoklesschwert eines Krieges mit Frankreich und vielleicht eines gewaltigen Weltkrieges über unseren Häuptern schwebte. Und früher oder später wird und muß ein solcher Weltkrieg entstehen aus nichts anderem als aus dem unaufhörlichen Rüsten, das keinen Moment zur Ruhe kommt in allen Staaten. Kein Wunder, daß eine Gesellschaftsordnung, daß ein Staat, der diesen organisierten Mord, den Krieg, unauf-

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[1] Gemeint sind der erste Balkankrieg vom 8. Oktober 1912 bis 30. Mai 1913 (Von Oktober 1912 bis Mai 1913 führten Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro Krieg gegen das türkische Reich, der mit einer Niederlage der Türkei endete. Dieser Krieg war in seiner Haupttendenz ein nationaler Befreiungskrieg gegen die türkische Fremdherrschaft auf dem Balkan. Infolge der Einmischung der imperialistischen Großmächte gefährdete er den Frieden in Europa.) und der zweite Balkankrieg vom 29. Juni bis 10. August 1913, durch die die internationalen Spannungen verschärft wurden.

[2] Im Frühjahr 1911 hatte Frankreich den Versuch unternommen, seine Herrschaft auf ganz Marokko auszudehnen und endgültig zu festigen. Dieses Vorgehen nahm die deutsche Regierung zum Anlaß für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an das Algecirasabkommen gebunden. (Mit dem Algecirasvertrag vom 7. April 1906 war die erste Marokkokrise von 1905 beendet werden. Der Vertrag garantierte Marokko formal die Unabhängigkeit, festigte aber den Einfluß Frankreichs in Marokko, indem er die Polizei des Landes auf fünf Jahre französischer und spanischer Kontrolle unterstellte. Deutschland hatte sich durch seine Abenteuerpolitik außenpolitisch fast völlig isoliert.) Am 1. Juli 1911 entsandte die deutsche Regierung die Kriegsschiffe „Panther“ und „Berlin“ nach Agadir und beschwor durch diese Provokation eine unmittelbare Kriegsgefahr herauf. Das Eingreifen Englands zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiß geschlossen.