Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 416

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hörlich selbst heraufbeschwört und auf ihn nicht verzichten will, daß dieser diejenigen als Verbrecher stempelt, die das Ideal der Nächstenliebe, der menschlichen Gleichheit, der Völkerverbrüderung in die Köpfe und in die Herzen der Volksmassen tragen. Niemand kann Ihnen das besser und schärfer sagen, als der Staatsanwalt in Frankfurt es gesagt hat. Alles, was ich Ihnen ausführte, mögen Sie denken, das sind die üblichen Aufwieglerreden eines „Roten“. Nun, ich will mich auf einen einwandfreien Zeugen berufen: Das ist – der Staatsanwalt in Frankfurt, der, nach dem Berichte eines unverdächtigen Blattes – der scharfmacherischen „Post“ in Berlin –, folgendes gesagt hat: „Was die Angeklagte mit ihrer Agitation gegen den Krieg getan hat, ist ein Attentat auf den Lebensnerv unseres Staates.“

Werte Anwesende! Merken Sie sich diese goldenen Worte aus berufenem Munde eines offiziellen Vertreters des heutigen Staates, denn jedes dieser staatsanwaltlichen Worte wirkt mehr zur Aufklärung der Massen über die Natur der bestehenden Gesellschaftsordnung als zehn sozialdemokratische Flugblätter. Überlegen Sie sich den tiefen Sinn dieses Ausspruches: „Der Lebensnerv des Staates, das ist der Militarismus.“ Heutzutage, wo wir in Deutschland in einer Zeit der furchtbarsten Arbeitslosigkeit leben, wo Zehntausende und aber Zehntausende fleißiger, ehrlicher Proletarierfamilien nicht wissen, womit sie morgen ihre hungrigen Kinder speisen werden, in einer solchen Zeit erklärt ein offizieller Vertreter des Staates: Nicht die Unterstützung, nicht die Speisung dieser Hungrigen ist der Lebensnerv des Staates, sondern die Kaserne, die Bajonette, die Pickelhauben, das ist der Lebensnerv. (Stürmischer Beifall und große Heiterkeit.)

Werte Anwesende! Heute, wie schon seit langer Zeit, lechzt der deutsche Arbeiter, lechzen durch uns erweckte Arbeiterfrauen nach Kultur, nach Bildung, nach Wissen. Die Parias des heutigen Staates erhalten in der „herrlichen“ Volksschule des Deutschen Reiches statt Bildung, statt Wissen elende Bettlerbrocken einer „Aufklärung“. Und da erklärt ihnen ein öffentlicher Vertreter des Staates, der Lebensnerv des Staates, das ist nicht die Hebung der Volksbildung, das ist nicht Wissen, das ist nicht geistige Kultur, das ist der Kadavergehorsam des Soldaten. („Sehr richtig!“)

Sie hören das hier nicht aus dem Munde eines sozialdemokratischen Aufwieglers, sondern aus dem Munde eines waschechten Vertreters der heutigen Staatsordnung, der herrschenden Moral, der herrschenden Gedankenwelt, der Ihnen sagt: Nicht euer materielles, leibliches und geistiges

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