Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 316

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/316

Der ganze taktische Plan Kautskys bewegt sich also in falschem Geleise, er ist opportunistische Spekulation auf einen sozialreformerischen Altweibersommer des Reichstags und auf opportunistische Köderung der Massen durch „positive“ parlamentarische Arbeit.

Doch abgesehen davon, was bleibt denn Greifbares an taktischer Weisung für die Partei übrig, wenn man in diesem Plan das Wenn und Aber der Zukunftsmusik ausscheidet? Was sollen wir schließlich tun, um vorwärtszukommen? Reichstagswahlen, Mandatgewinn – das ist das Allheilmittel, das ist das A und O. Nichtsalsparlamentarismus – das ist alles, was Kautsky der Partei heute zu empfehlen weiß.

IV

Seit Jahren haben wir in unseren Reihen kein so allgemeines lebhaftes Bedürfnis verspürt, vorwärtszukommen, unserer Taktik eine größere Wucht und Schlagfertigkeit, unserem Organisationsapparat eine größere Beweglichkeit zu verleihen, wie jetzt. Die Kritik an den eigenen Mängeln im Parteileben und in den Kampfmethoden, wie stets die erste Vorbedingung jedes inneren Fortschritts in den Reihen der Sozialdemokratie, ist diesmal aus dem Schoße der Organisationen selbst herausgekommen, sie hat in den weitesten Kreisen der Partei ein kräftiges Echo gefunden. Und es sollte scheinen, daß zu einer solchen Selbstkritik Anlaß genug vorhanden ist. Der preußische Wahlrechtskampf ist nach dem glänzenden Anlauf im Jahre 1910 in völlige Stagnation geraten. Die Aktion der Partei wie der Fraktion im Kampfe gegen die Militärvorlage war nach allgemeinem Empfinden nicht auf der Höhe; speziell die Taktik der Fraktion gegenüber der Deckungsvorlage hat eine tiefe Beunruhigung in den Parteikreisen hervorgerufen. Der Stand der Organisation und der Abonnenten unserer Presse weist den minimalsten Fortschritt, den wir seit dem Bestehen der Partei zu verzeichnen haben, stellenweise sogar einen Rückgang auf. Geben alle diese Erscheinungen auch gar keinen Grund zu Bußtagspredigten über unsere hoffnungslose „Verbürgerlichung“, so sind sie für eine Kampfpartei, namentlich für eine Partei der Selbstkritik wie die unsere, Grund zur ernsten Prüfung der eigenen Kräfte und Kampfmethoden. Wie die Parteipresse und der Verlauf der Parteiversammlungen von allen Seiten dartun, empfinden die weitesten Kreise der Genossen das ernste Bedürfnis, sich mit all den auftauchenden Fragen, Zweifeln und Problemen auseinanderzusetzen.

Nächste Seite »