Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 317

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Nur Kautsky, derselbe Kautsky, der bei mir „mangelhafte Vertrautheit mit dem Fühlen und den Lebensbedingungen des Proletariats“[1] bemängelt, hat von diesem Drängen und dieser Unruhe unserer Massen nicht das geringste verspürt. Er seinerseits findet an unserem Parteileben gar nichts auszusetzen. Ist auch die Fortsetzung der Wahlrechtsdemonstrationen, die Kautsky selbst im Mai 1910 für notwendig erklärte, ausgeblieben und ist der Wahlrechtskampf seit drei Jahren eingeschlafen, Kautsky findet alles in Ordnung und erklärt, daß nur Most und Hasselmann sich nach etwas anderem sehnen könnten. Kritisiert man unser Verhalten bei der Militärvorlage als mangelhaft, dann fordert Kautsky, man solle ihm doch zeigen die Massenaktionen gegen solche Vorlagen in Frankreich, Italien, Österreich, ja er hat sogar den grimmigen Humor, vom heutigen Rußland das Vorbild der Aktion gegen den Militarismus für die deutsche Sozialdemokratie mit ihrer Million Organisierter zu fordern.

Wenn die Parteigenossen draußen im Lande die flaue Stimmung der Massen im Kampfe gegen die Militärvorlage als eine bittere und beschämende Enttäuschung empfinden, findet Kautsky diese Flauheit ganz begreiflich und ruft kühl bis ans Herz hinan: Weshalb sollten sich denn die Massen erregen? Handelte es sich doch nach ihm um nichts als um die Ausdehnung der allgemeinen Wehrpflicht auf alle wehrhaften Männer, wonach die ungeheuerlichste aller Militärvorlagen beinahe so harmlos aussieht wie die Verleihung eines Ordens vierter Güte an einen fortschrittlichen Führer.

Während Kautsky noch im Jahre 1909 das Verhalten der Fraktion bei der Finanzvorlage[2] scharf kritisierte, durchaus eine Obstruktion forderte, auf dem Leipziger Parteitag entschieden gegen die Abstimmung für direkte Steuern auftrat, weil sie mit indirekten verkoppelt waren, und erklärte: „Niemals dürfen wir dem heutigen System eine Steuer bewilligen zu Zwecken, die wir verwerfen“[3] (Leipziger Parteitagsprotokoll, S. 349) [Hervorhebung – R. L.], findet er heute kein Wort gegen das Verhalten der Fraktionsmehrheit. Ja, er feiert es als einen herrlichen Sieg und den

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[1] Karl Kautsky: Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen. In: Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 536.

[2] Die sozialdemokratische Fraktion hatte 1909 im Reichstag dem Erbschaftssteuergesetz, einem Bestandteil der Finanzreform (Am 10. Juli 1909 war im Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei beschlossen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.), in zweiter Lesung zugestimmt. Diese Haltung, die die Reformisten auf dem Leipziger Parteitag 1909 mit demagogischer Berufung auf das sozialdemokratische Parteiprogramm zu rechtfertigen suchten, führte in der Sozialdemokratie zu heftigen Auseinandersetzungen über die prinzipielle Haltung der Partei zu direkten Steuern im kapitalistischen Klassenstaat.

[3] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Leipzig vom 12. bis 18. September 1909, Berlin 1909, S. 349.