Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 318

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Beginn eines ganzen Frühlings „positiver Arbeit“ im Reichstag. Und selbst der Rückgang der Organisation und der Abonnenten vermag Kautsky nicht aus der beschaulichen Ruhe eines Philosophen herauszubringen:

„Kein Zweifel“, sagt er, „es ist im Parteileben augenblicklich ein gewisser Stillstand zu verzeichnen, der an manchem Orte sogar zu einem Rückgang der Abonnentenzahlen der Parteipresse und der Mitgliederzahlen der Parteiorganisationen geführt hat. Das ist sicher nicht erfreulich, aber noch lange keine bedenkliche Erscheinung.“[1] [Hervorhebung – R. L.]

Man denke: Derselbe Kautsky, der sich überhaupt nur auf Organisierte verlassen, nur mit ihnen alle Schlachten des Klassenkampfes schlagen will, der in der Organisation nicht bloß den bewußten Kern und die leitende Vorhut des Proletariats, sondern überhaupt das all und einzige des Klassenkampfes und der Geschichte sieht, derselbe Kautsky entwickelt plötzlich eine merkwürdige Gelassenheit, wenn man selbst einen Rückgang unserer Organisationen feststellt! Ja, er versteigt sich, um diesen Rückgang „unbedenklich“ erscheinen zu lassen; zu der höchst bedenklichen Theorie, daß man ja „an den Zielen unserer Bewegung dasselbe Interesse nehmen könne, ob man in der Organisation steht oder nicht“[2]. Ein Glück, daß die „Neue Zeit“ keine allzu große Verbreitung in den Massen findet, sonst würden ja die Organisationsfaulen bei unserem Obertheoretiker die schönste Rechtfertigung ihres sträflichen Verhaltens finden. Wenn unsereiner zu behaupten wagt, daß die Unorganisierten in einzelnen stürmischen Momenten, in bestimmten historischen Situationen, beim Kampfe um große volkstümliche Ziele neben den Organisierten und unter ihrer Anführung mitmachen müssen, dann gerät Kautsky in die edelste Entrüstung ob solchem Blanquismus, Putschismus, Syndikalismus. Wenn es aber gilt, das Bestehende mit seinen Mängeln zu beschönigen und die Selbstkritik der Partei einzulullen, dann entdeckt Kautsky plötzlich, was keiner vor ihm wußte: daß man sogar an den Zielen unserer Bewegung „dasselbe Interesse“ nehmen könne, ob man organisiert sei oder nicht!

Das ist ein Offiziösentum, wie es reiner in unserer Partei und jedenfalls im Organ des geistigen und theoretischen Lebens der Sozialdemokratie nie vertreten worden ist. Und jedenfalls ist das ein Gebrauch der Theorie, der mit dem Geiste des Marxismus nichts gemein hat. In Mar-

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[1] Karl Kautsky: Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen. In: Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 533.

[2] Ebenda, S. 534.