Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 319

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xens Geist ist die theoretische Erkenntnis nicht dazu da, um hinter der Aktion einherzugehen und für alles, was von den „obersten Behörden“ der Sozialdemokratie jeweilig getan oder gelassen wird, einen rechtfertigenden Beruhigungsschleim zu kochen, sondern umgekehrt, um der Aktion der Partei führend vorauszugehen, um die Partei zur ständigen Selbstkritik anzustacheln, um Mängel und Schwächen der Bewegung aufzudecken, um neue Bahnen und weitere Horizonte zu zeigen, die in den Niederungen der Kleinarbeit unsichtbar sind.

Kautsky hingegen bekämpft den Gedanken an eine Offensive in unserer Taktik, er bekämpft die Forderung der Initiative, er bekämpft die Losung des Massenstreiks. Was er aber zu bieten weiß, sind nur die gefährlichsten Illusionen in bezug auf den Parlamentarismus. Im Frühjahr 1910, als die Partei mitten in den preußischen Wahlrechtsdemonstrationen die Frage der weiteren Kampfmittel erörterte, trat Kautsky dazwischen, um zu der Abrüstung im Wahlrechtskampf die Theorie zu liefern und im Sinne der leitenden Parteikreise die ganze Aufmerksamkeit und Energie auf die bevorstehenden Reichstagswahlen zu lenken. Reichstagswahlen! Das war Kautskys einzige taktische Losung. Auf die Reichstagswahlen sollten alle Hoffnungen konzentriert werden. Nach den Reichstagswahlen versprach Kautsky „eine ganz neue Situation“ und stellte einen „neuen Liberalismus“ in Aussicht. Freilich, auch dieser „neue Liberalismus“ war, wie alle politischen Horoskope Kautskys, in lauter Wenn und Abers gewickelt, und jede positive Behauptung wurde nachträglich durch einschränkende Bedingungen wieder aufgehoben. Doch der einzige begreifliche Zweck und der Kern seiner Ausführungen sowie des Schlagwortes vom neuen Liberalismus war doch nur der, Hoffnungen auf den „neuen Mittelstand“ zu wecken und den Schwerpunkt des politischen Kampfes ins Parlament zu verlegen.

„Die Gunst der heutigen Situation“, schrieb Kautsky am 25. Februar 1912 im „Vorwärts“, „liegt nicht darin, daß in den Liberalen plötzlich entschlossene Kämpfer für eine demokratische Revolution auf den Plan getreten sind, sondern darin, daß die Haltung der Liberalen uns gegenüber alle Pläne der Reaktionäre zuschanden macht. Unser Wahlsieg hat diese nicht überrascht, mit dem rechnete alle Welt. Aber sie erwarteten, daß unter dem Eindruck des proletarischen Wahlsiegs die Liberalen, von panischem Schrecken ergriffen, in hellen Haufen ins reaktionäre Lager abschwenken, das Wort von der reaktionären Masse zur Wahrheit machen würden …

Und das wäre sicher auch geschehen ohne den neuen Mittelstand. So

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