Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 320

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ist aber nicht bloß die starke Sozialdemokratie gekommen, sondern neben ihr auch ein Liberalismus, der zum Kampfe gegen die Rechte bereit ist – ihnen gegenüber diese in der Minderheit.“[1] [Hervorhebungen – R. L.] Und gegen Schluß:

„Die Machtverhältnisse der verschiedenen Parteien und Klassen, wie sie der jüngste Wahlkampf nicht geschaffen, wohl aber enthüllt hat, sie haben eine politische Situation hervorgerufen, die ihresgleichen in der bisherigen Geschichte Deutschlands nicht findet. Man braucht nicht parlamentarischem Kretinismus verfallen zu sein, noch die Macht des Reichstages und die Kraft des Liberalismus zu überschätzen, um zu der Anschauung zu kommen, daß der Schwerpunkt unserer politischen Entwicklung wieder einmal im Reichstag ruht und die parlamentarischen Kämpfe uns in der gegebenen Situation ein erhebliches Stück vorwärts bringen können – natürlich nicht durch sich selbst allein, sondern durch ihre Rückwirkung auf die Massen, die die feste Grundlage unserer Kraft bleiben, wie immer sich die parlamentarischen Konstellationen gestalten mögen.“[2] [Hervorhebungen – R. L.]

Die Reichstagswahlen sind längst vorüber, die „ganz neue Situation“ ist nicht eingetreten, vielmehr wird der alte reaktionäre Kurs ruhig fortgesetzt. Unsere Fraktion von 110 hat sich gegen diese Reaktion, wie nicht anders zu erwarten war, im großen und ganzen ebenso machtlos erwiesen wie die frühere von 53. Der „neue Liberalismus“ hat sich trotz „neuen Mittelstandes“ als der älteste, greisenhafteste herausgestellt. Der preußische Wahlrechtskampf hat sich von der Erstarrung seit dem Frühjahr 1910 immer noch nicht erholt. Und die neue politische Situation, „die ihresgleichen in der bisherigen Geschichte Deutschlands nicht findet“, kulminierte in einem Stillstand der Sozialreform und in der glatten Annahme einer Militärvorlage, die „ihresgleichen in der bisherigen Geschichte Deutschlands nicht finden“.

Was ist nun heute die Losung Kautskys? Wieder Reichstagswahlen und nichts als Reichstagswahlen! „Das Wachstum der Bedeutung des Reichstags im Bewußtsein der Volksmassen“ – das ist nach Kautsky auch heute noch der einzige Weg, wie wir vorwärtskommen! Wie seine Theorie auf eine offiziöse Beruhigung aller Skrupel und Rechtfertigung alles Bestehenden in der Partei hinausläuft, so seine Taktik auf das Bremsen der Bewegung auf dem alten ausgefahrenen Geleise des reinen Parlamentaris-

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[1] Karl Kautsky: Der neue Liberalismus und der neue Mittelstand. In: Vorwärts (Berlin). Nr. 47 vom 25. Februar 1912.

[2] Ebenda.