Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 321

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mus, im übrigen auf die Hoffnung, daß die Geschichte schon die revolutionäre Entwicklung besorgen wird und daß, wenn die Zeit reif ist, die Massen über die bremsenden Führer hinwegstürmen werden. Oder wie Kautskys Gesinnungsgenosse, der „Vorwärts“, so schön formuliert hat: „Wenn die Massen in stürmischer Erregung sind, wenn sie vorwärtsdrängen, wenn sie um bremsende Führer sich nicht mehr bekümmern – dann ist der Augenblick, nicht wo der Massenstreik diskutiert und dann proklamiert ist, sondern wo er da ist, geboren aus der zwingenden unwiderstehlichen Gewalt der Massenbewegung.“

Das ist eine Anweisung für unsere Führer, die an die Regierungsmaximen des seligen Kaisers Ferdinand vor der Märzrevolution erinnert: „Mich und den Metternich hält’s noch aus.“ Solange es „aushält“, sollen sich die Führer der Sozialdemokratie an die heilige Routine, an den Nurparlamentarismus halten und den neuen Aufgaben der Zeit mit Gewalt entgegenstemmen. Erst wenn alles Bremsen nichts hilft, soll der. Beweis erbracht sein, daß „die Zeit erfüllet sei“.

Sicher werden bremsende Führer schließlich von den stürmenden Massen auf die Seite geschoben werden. Allein, dieses erfreuliche Ergebnis als ein sicheres Symptom der „reifen Zeit“ ruhig erst abzuwarten mag für einen einsamen Philosophen angemessen sein. Für die politische Leitung einer revolutionären Partei wäre es Armutszeugnis, moralischer Bankrott. Die Aufgabe der Sozialdemokratie und ihrer Führer ist nicht, von den Ereignissen geschleift zu werden, sondern ihnen bewußt vorauszugehen, die Richtlinien der Entwicklung zu überblicken und die Entwicklung durch bewußte Aktion abzukürzen, ihren Gang zu beschleunigen.

Nichts ist auch rascher und gründlicher von der wirklichen Entwicklung begraben worden als die taktischen Weisungen Kautskys in den letzten drei Jahren: wie seine „Ermattungsstrategie“, die auf den Nurparlamentarismus hinausläuft und von der jetzt die Mehrheit der Partei nichts wissen will, wie seine „Abrüstung“, die im Orkus verschwunden ist, wie sein „neuer Liberalismus“, wie seine „ganz neue Situation“ nach den Reichstagswahlen, wie die unter seinem theoretischen Segen ausgeführte Dämpfungstaktik bei den Wahlen. So wird es auch in Zukunft gehen. Eine Theorie, die nicht dem Vorwärtsstreben der Massen, sondern dem Bremsen dient, kann selbst nur erleben, daß sie von der Praxis überrannt, achtlos auf die Seite geschoben wird.

Die Neue Zeit (Stuttgart),

31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 828-843.

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