Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 300

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Das Offiziösentum der Theorie

[1]

I

Genau wie vor drei Jahren, als die Entfaltung der preußischen Wahlrechtsbewegung[2] die Losung des Massenstreiks in den Mittelpunkt der Erörterungen gerückt hatte, so auch jetzt beeilte sich Kautsky, in die durch den Ausfall der preußischen Landtagswahlen[3] und durch den Verlauf der Kampagne gegen die Militärvorlage[4] angeregte lebhafte Diskussion über den Massenstreik „dämpfend“ dazwischenzutreten.[5] Kautsky fühlt sich wieder berufen, die Partei vor schweren Gefahren zu retten. Er warnt vor „Abenteuern“, „Handstreichen“ und „Quertreibereien“, er wittert Syndikalismus, Putschismus, Blanquismus, „revolutionäre Gymnastik“, Moste und Hasselmänner, er denunziert „unsere Russen“, die jeglicher Organisation feind seien und die eifrig daran arbeiteten, den Massen den Kampf um parlamentarische Rechte zu verekeln. Schade nur, daß von diesem blühenden Phantasiebild dasselbe gilt, was von der Rolandschen Stute:

Wunderschön war diese Stute,

Leider aber war sie tot.

Sämtliche Gefahren, gegen die Kautsky zu Felde zieht, sind nichts als Windmühlen seiner eigenen Einbildungskraft.

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[1] Rosa Luxemburg hatte bereits im „Vorwärts“ Nr. 192 vom 29. Juli 1913 diese Auseinandersetzung mit Karl Kautsky angekündigt: „Der neue Liberalismus. Die ‚Feststellung‘ des Genossen Kautsky über seinen ‚neuen Liberalismus‘ werde ich, zusammen mit seinem Angriff gegen mich in der Frage des Massenstreiks, in der ‚Neuen Zeit‘ beantworten - vorausgesetzt natürlich, daß man mich dort zu Wort kommen läßt. R. Luxemburg.“

[2] Im Frühjahr 1910 hatte sich in ganz Deutschland eine Massenbewegung für die Erringung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts zum preußischen Landtag entwickelt. Rosa Luxemburg verteidigte die Anwendung des politischen Massenstreiks als objektiv notwendiges Kampfmittel gegenüber der Absicht des Parteivorstandes, die Wahlrechtsbewegung in den alten Bahnen des Parlamentarismus zu belassen, um angeblich die Reichstagswahlen 1912 nicht zu gefährden.

[3] Bei der Wahl der Abgeordneten zum preußischen Abgeordnetenhaus am 3. Juni 1913 hatte die Sozialdemokratische Partei auf Grund des reaktionären Dreiklassenwahlrechts trotz der hohen Stimmenzahl von 775 171 (28,38 Prozent) nur 10 Mandate erhalten, während dagegen beispielsweise die Deutschkonservative Partei bei nur 402 988 (14,75 Prozent) Stimmen 147 Mandate erhielt.

[4] Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10 000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe [dem sogenannten Wehrbeitrag] und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß mit Verweis auf die Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“

[5] Siehe Karl Kautsky: Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 532–540, 558–568.