Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 407

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/407

Rede am 22. Februar 1914 in der Protestversammlung gegen die Verurteilung Rosa Luxemburgs in Frankfurt am Main

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Nach einem Zeitungsbericht

Die aufrichtige Begeisterung über den moralischen Sieg, den wir errungen haben, hat, wie ich sehe, Sie genauso wie mich ergriffen. Ja, liebe Genossen, wir haben allen Grund, begeistert, froh und stolz zu sein, weil unsere Feinde durch dieses Urteil gezeigt haben, wie sie vor uns zittern. Man glaubt nun einen Schreckschuß gefunden zu haben: Jeder, der es wagt, an den Grundfesten des Staates zu rütteln, der wird jetzt zwölf Monate ins Gefängnis gesperrt. Aber der Glaube, wir würden uns durch Gefängnisstrafen irremachen lassen, ist nur ein Beweis dafür, wie sich unsere Weltanschauung in den Köpfen eines preußischen Richters und Staatsanwalts spiegelt. Als ob zwölf Monate Gefängnis ein Opfer wären für einen Menschen, der in der Brust die Gewißheit hat, für die ganze Menschheit zu kämpfen. Dieser Prozeß beleuchtet so richtig unseren ganzen Klassenstaat; hier stehen sich zwei Welten gegenüber, die wegen der vollständigen Unfähigkeit, unsere Psyche zu begreifen, nie überbrückt werden können. („Sehr richtig!“) Deshalb gibt es keinen Pardon, dieser Staat muß zum Teufel gejagt werden. (Lebhafter, lang andauernder Beifall.)

Man wollte ein Opfer treffen, aber was bedeutet die Lappalie, ein Jahr Gefängnis, gegen jenes Löbtauer Schreckensurteil, das jetzt sein fünfzehnjähriges Jubiläum feiern kann?[2] Gibt es nicht schon der Opfer massenhaft, sind die Tausende von Familien, die in Not und Elend leben, nicht auch ein Opfer des Klassenstaats? Wir machen keine Rechnung über

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[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] In der Quelle: zehnjähriges Jubiläum. – Im Februar 1899 waren vom Dresdener Schwurgericht neun Bauarbeiter aus Löbtau zu insgesamt 53 Jahren Zuchthaus, 8 Jahren Gefängnis und 70 Jahren Ehrverlust verurteilt worden, weil sie protestiert hatten, daß auf einem Nachbarbau über die festgesetzte Arbeitszeit hinaus gearbeitet wurde. Es war zu Tätlichkeiten gekommen, als der Bauleiter mit einem blindgeladenen Revolver auf die Arbeiter geschossen hatte.