Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 225

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Unsere Aktion gegen die Militärvorlage

I

Leipzig, 6. Juni

Die Resolution der Generalversammlung des 1. Stuttgarter Wahlkreises[1] hat das große Verdienst, einer Stimmung öffentlichen Ausdruck verliehen zu haben, die sicher in weiten Kreisen der Partei heute herrscht. Man kann sich freilich, wie unser Zentralorgan, die Antwort leicht machen, wenn man sich trocken-formalistisch an die in der Resolution erwähnten Mittel einer eventuellen energischen Aktion gegen die Militärvorlage hält.[2] Die parlamentarische Obstruktion ist durch die Geschäftsordnung des Reichstags ausgeschlossen, ein Massenstreik läßt sich nicht künstlich herbeiführen – damit soll die Kritik der Stuttgarter Genossen abgetan, ihre Unzufriedenheit mit der Haltung der Partei als ungerechtfertigt hingestellt werden. Der Kern der Resolution liegt, wie in diesem Blatte schon hervorgehoben, nicht in den erwähnten konkreten Vorschlägen, sondern in dem Geist, aus dem heraus die Resolution gefaßt wurde. Ist man aber gewillt, diesem Geist ein wenig ehrliches Verständnis entgegenzubringen, dann muß man offen gestehen, daß die Aktion unsrer Partei gegenüber den neuesten unerhörten Provokationen des Militarismus im ganzen und seit längerer Zeit an Großzügigkeit, Wucht und Schärfe manches vermissen läßt. Wenn heute der „Vorwärts“ ruhig konstatieren kann, daß sich stürmischere Massenkundgebungen in diesem Moment kaum herbeiführen ließen, wenn Dr. Breitscheid zur Rechtfertigung der

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[1] Die Generalversammlung des sozialdemokratischen Vereins für den ersten württembergischen Wahlkreis Stuttgart-Stadt und -Land verlangte in einer einstimmig angenommenen Resolution von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ein schärferes Vorgehen gegen die Rüstungs- und Deckungsvorlage und empfahl das Mittel der Obstruktion. (Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10 000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe [dem sogenannten Wehrbeitrag] und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß mit Verweis auf die Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“.) Der Parteivorstand wurde aufgefordert, über eine Versammlungskampagne hinaus eventuell den Massenstreik einzuleiten.

[2] Siehe Aus der Partei. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 130 vom 28. Mai 1913.