Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 443

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Über Militarismus und Arbeiterklasse. Rede am 12. Mai 1914 im V1. Berliner Reichstagswahlkreis

Nach einem Zeitungsbericht

Vor noch nicht einer Woche hat der berufene Vertreter des deutschen Militarismus, Falkenhayn, im Reichstage erklärt, wenn man sich künftig auf das deutsche Militär nicht mehr so verlassen könnte, wie das früher der Fall war, dann könne ihm die ganze Kultur gestohlen bleiben. In diesem Wort ist der Geist des heutigen Militarismus trefflich charakterisiert. Und mein lieber Staatsanwalt in Frankfurt hat das große Wort gesprochen: Ein Sozialdemokrat, der gegen Krieg und Militarismus agitiert, muß auf lange Zeit ins Gefängnis gesperrt werden, denn das sei ein Attentat auf den Lebensnerv des Staates.

Also der blinde Gehorsam des Soldaten ist der Lebensnerv des Staates; wenn aber der Soldat anfängt, über die Zweckmäßigkeit der Befehle nachzudenken, statt als blindes Werkzeug allen Befehlen von oben Gehorsam zu leisten, dann wird es um den Lebensnerv geschehen sein, und die Herrlichkeit des heutigen Militärstaates bricht zusammen. Man bezeichnet den unbedingten sklavischen Gehorsam als den Lebensnerv des Staates. Dagegen ist man unbesorgt um die Nahrungsmittelversorgung des darbenden Volkes.

Seit Jahrzehnten regt sich in den Massen des deutschen Volkes der Hunger nach Bildung und Wissen. Das ist eine Frucht unserer Aufklärungsarbeit. Aber die herrschenden Klassen denken nicht daran, die Volksschulen auszugestalten, denn die Volksschulen sind ja nicht der Lebensnerv des Staates. Es sind keine Sozialdemokraten, die das sagen, sondern wohlbestallte Vertreter des heutigen Klassenstaates. Staatsanwalt wie Kriegsminister haben uns aber auch vorgeworfen, schlechte Patrioten zu sein, und speziell auf meiner kleinen Person lastet das Odium, heimatlos zu sein. Wenn jemand das Recht hat, das Wort Vaterland im Munde zu führen, dann sind wir es. Wir, das arbeitende Volk, durch dessen

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