Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 444

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Hände die gesamte Gesellschaft erhalten wird. Freilich sind wir nicht der Meinung, daß alle Völker gegeneinander wie reißende Bestien zum Sprunge bereitstehen müssen und daß der schließlich recht behält, der die größten Leichenhügel aufrichtet. Wir glauben vielmehr, daß es den Interessen der Menschheit besser entspricht, daß alle Völker ohne Unterschied der Rasse, der Sprache und des Glaubens in völligem Frieden und in Freundschaft miteinander leben und in der Erfüllung von Kulturaufgaben wetteifern. Wir geben uns natürlich nicht der Täuschung hin, dieses Ideal könne verwirklicht werden, solange der Kapitalismus noch besteht. Darin unterscheiden wir uns auch von den bürgerlichen Friedensfreunden, die, kaum von der Berner Konferenz[1] heimgekehrt, in Frankreich wie in Deutschland für die ungeheuersten Militärvorlagen stimmten, die je erlebt wurden. Damit, daß wir sagen, solange der Kapitalismus herrscht, sind Kriege unvermeidlich, wollen wir keineswegs das Volk wehrlos machen. Im Gegenteil wollen wir ja gerade den gesamten wehrfähigen Männern die Waffe in die Hand geben. Dann wird allerdings auch die Entscheidung über Krieg und Frieden in der ehrlichen Hand des Volkes ruhen.

Handelte es sich bei den Bestrebungen des heutigen Militarismus wirklich um die Verteidigung des Vaterlandes, dann brauchte man nicht das verwerfliche System der Soldatenmißhandlungen. Oder glaubt ein Mensch im Ernst, der malträtierte Soldat werde mit besonderer Begeisterung in den Kampf ziehen? Die Mißhandlungen gehören zum eisernen Bestand der militärischen Erziehungsmethoden. Sie sind nötig, willenlose Sklaven aus den Soldaten zu machen, die sich zu jedem Verbrechen kommandieren lassen, die sich gebrauchen lassen, jene Scheußlichkeiten zu begehen, die wir im Chinafeldzug[2], in dem Kampf gegen die Hereros[3] erleben mußten. Sie sind aber auch nötig, damit der Soldat, ohne mit der Wimper zu zucken, bereit ist, auf seine Arbeitsbrüder, auf Vater und Mutter zu schießen.

Von welcher Seite wir also den Militarismus betrachten, wir müssen dem Frankfurter Staatsanwalt recht geben: Das Militär ist der Lebensnerv des heutigen Staates. Und gerade gegen diesen müssen wir unsere ganze Kraft richten. Macht man uns auch zum Vorwurfe, daß wir die Entschei-

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[1] Am 11. Mai 1913 hatte in Bern eine Verständigungskonferenz von 156 deutschen und französischen Parlamentariern stattgefunden, auf der die deutsche Sozialdemokratie durch 24 Abgeordnete vertreten war. Einstimmig war eine Resolution angenommen worden, die den Chauvinismus verurteilte und erklärte, daß die überwiegende Mehrheit des deutschen wie des französischen Volkes den Frieden will und die Beilegung der internationalen Konflikte durch Schiedsgerichte fordert.

[2] Im Jahre 1900 hatte die deutsche Regierung die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking während des Aufstandes der Ihotuan zum Anlaß genommen, um durch die Entsendung eines Expeditionskorps nach China ihr Vordringen in Ostasien zu sichern. Zusammen mit den Truppen anderer imperialistischer Mächte schlugen die deutschen Interventionstruppen die chinesische nationale Befreiungsbewegung grausam nieder.

[3] Bei dem Unterdrückungsfeldzug 1904–1907 gegen die Heteros in Südwestafrika (Im Jahre 1904 hatten sich in Südwestafrika die Völker der Hereros und der Hottentotten gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Imperialismus erhoben. Der Aufstand, der den Charakter eines Freiheitskrieges trug, endete mit einer verlustreichen Niederlage dieser Völker, nachdem die deutschen Kolonialtruppen drei Jahre lang mit äußerster Grausamkeit gegen sie vorgegangen waren.) hatten die deutschen Kolonialtruppen die Eingeborenen in die Wüste getrieben und von den Wasservorkommen abgeschnitten. General Lothar von Trotha hatte Befehl gegeben, keine Gefangenen zu machen und auf Frauen und Kinder zu schießen, so daß die Hereros einem grausamen Tod ausgeliefert waren.