Die politische Lage und die Sozialdemokratie. Rede am 1. Dezember 1911 in Leipzig
Nach einem Zeitungsbericht
Die bevorstehende Reichstagswahl[1] erreicht uns in einer so stürmisch bewegten Zeit, wie [wir sie] noch nie [hatten] seit dem Bestehen des neuen Deutschen Reichs. Wir haben noch nie, seit wir das Deutsche Reich und den Reichstag haben, eine Reichstagswahl erlebt, die während eines blutigen Kriegszustands kam. Zwar 1907 hatten wir schon die entfernten Nachklänge eines Kolonialkriegs.[2] Allein, man konnte wenigstens damals die Illusion aufrechterhalten, daß es ein von Europa ferner Krieg war, der nicht mitzählt in der allgemeinen politischen Situation. Erinnern Sie sich, wie es noch vor wenigen Jahren in politischen Kreisen und selbst in unsern eigenen Reihen so viele Optimisten gab, die nicht müde wurden, die Tatsache hervorzuheben, daß wir trotz allen Rüstens und aller Kriegshetzereien ganze 40 Jahre der friedlichen Entwicklung gehabt hätten. Diese Theorie über das Hineinwachsen in den Frieden und die friedliche demokratische Entwicklung knüpft sich an den Namen eines französischen Parteiführers, der wohlverdienten Ruf in der internationalen Sozialdemokratie genießt, Jean Jaurès. Sie wissen wahrscheinlich, daß Genosse Jaurès noch vor kurzer Zeit nicht müde wurde, die sehr wichtige Tatsache hervorzuheben, daß wir seit dem Deutsch-Französischen Kriege keine Kriege mehr auf dem Kontinent gehabt hätten und daß diese Tatsache eine angenehme Perspektive eröffne. Es hieß: Wir gehen einer Zeit entgegen, in
[1] Siehe S. 6, Fußnote 3.
[2] Im Jahre 1904 hatten sich in Südwestafrika die Völker der Hereros und der Hottentotten gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Imperialismus erhoben. Der Aufstand, der den Charakter eines Freiheitskrieges trug, endete mit einer verlustreichen Niederlage dieser Völker, nachdem die deutschen Kolonialtruppen drei Jahre lang mit äußerster Grausamkeit gegen sie vorgegangen waren. Siehe auch S. 7, Fußnote 2.