Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 71

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der der Gedanke der Humanität, der Menschlichkeit über die Bestrebungen der Reaktion triumphiert.

Diese Gedankengänge, die auch bei uns und in allen andern Ländern sehr viel Anhänger zählten, knüpften sich an bestimmte Vorstellungen darüber, was eigentlich die Garantien der friedlichen Entwicklung in Europa seien. Man nannte den Dreibund auf der einen Seite, den Zweibund auf der andern Seite. In letzter Zeit, als sich der russisch-französische Zweibund an England annäherte, begrüßte Jaurès das auch mit Freuden. Das wären die zwei Pfeiler, die den Frieden stützen, und damit bekämen wir ein großes Blachfeld für eine friedliche Kulturentwicklung in unserm Sinne.

Das Echo dieser schönen Träume ist noch nicht verklungen, und wie sieht es heute aus? Heute haben wir mitten in Europa einen blutigen Krieg, und die Frage des Zweibunds, des Dreibunds und des Haager Tribunals des Friedens[1] sind lauter Hirngespinste. Es hat sich mit brutaler Nacktheit gezeigt, daß die friedliche Entwicklung ein für allemal dahin ist. Wir haben heute Sturm von allen Seiten, und mitten im Sturm müssen wir unsern Kampf führen. Und wir haben keinen Grund, zu bedauern, daß wir auf stürmischem Boden stehen. Je stürmischer es zugeht, desto lustiger flattert die Fahne auf unserm Schiff.

Nicht nur die Kriegsfurie ist heute entfesselt. Wir haben in diesem Jahre noch einen andern Sturm erlebt, die Welle der Hungerrevolten, die mitten in den höchstentwickelten Kulturstaaten zum Durchbruch kam. Diese Hungerrevolten verdienen eine ganz besondere Beachtung. Wir sind an das Hungern gewöhnt. Wir wissen, daß in der kapitalistischen Gesellschaft mit periodischer Regelmäßigkeit und unabwendbar nach einer glänzenden Geschäftszeit eine Krise sich einstellt und daß, nachdem eine Handvoll Kapitalisten den Rahm abgeschöpft haben, die Opfer der Krise auf die große Masse erdrückend herabfallen. Dann kommt die Arbeitslosigkeit, der Hunger. Aber in diesem Jahre haben wir den Hungerschrei nicht mehr in einer Krisenperiode, sondern mitten in der Prosperität gehört. Jetzt bedarf es nicht einmal des Niedergangs der Konjunktur, die Arbeiter brauchen nicht erst aufs Pflaster geworfen zu werden. Mitten im glänzendsten Geschäftsgang für die Kapitalisten treibt der Hunger schon jetzt die Massen auf die Straße. Das ist eine neue Erscheinung, die wohl zu merken und zu untersuchen ist.

Und der Sturm kommt noch von einer andern Seite. Das erleben wir in diesem Augenblick. Die Metallindustrie in Berlin hat seit gestern

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[1] Siehe S. 58, Fußnote 2.