Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 72

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50 000 bis 60 000 Arbeiter ausgesperrt[1], und es ist nicht das erste Mal, daß wir in diesem Jahre einen so gewaltigen Kampf in der Metallindustrie erleben. Erst kam der Kampf in Hamburg, dann im sächsisch-thüringischen Bezirk, und jetzt mitten in Berlin eine Kraftprobe. Die Eisenindustrie ist die grundlegende Industrie in Deutschland, in der die Arbeiterschaft eine mächtige Schutzorganisation errichtet hat, und da entfesselt eine solche Machtprobe kolossale Massenkämpfe. Und auch von dieser Seite zeigt sich: Was wir bis heute erlebt haben, ist nur Kinderspiel gegenüber dem, was wir noch zu erwarten haben.

So gibt es noch genug, um jedem Denkenden zu zeigen, daß Ruhe und Frieden ein für allemal vorbei sind. Die Zeit rückt näher, wo eines Tages die Entscheidung fallen muß, wo die Arbeiterklasse für den Ausgang verantwortlich ist.

So stehen wir vor den Wahlen. Nicht jede Reichstagswahl hat dieselbe Bedeutung wie die andre, und alle haben für uns eine grundsätzlich andre Bedeutung als für alle bürgerlichen Parteien. Für die bürgerlichen Parteien haben die Reichstagswahlen nur und ausschließlich die Bedeutung einer Jagd nach Mandaten. Für uns stehen die Mandate an allerletzter Stelle. Wir gehen in den Kampf, nicht um möglichst viel Mandate zu erhaschen, sondern weil uns der Wahlkampf Gelegenheit bietet, die Massen aufzuklären und ein gewaltiges Stück vorwärtszutreiben auf der Bahn zum Sturz der kapitalistischen Gesellschaft. Die Wahl ist nicht vom eng parlamentarischen Standpunkte, sondern vom Standpunkte der großen internationalen Schicksale und Aufgaben zu betreiben. Wenn der Kampf auch schwer ist, wenn uns auch Arbeit in Hülle und Fülle erwartet, so können wir mit einem Blick auf das Leben, den Boden, auf dem wir stehen, erklären: Wir gehen in diesen Kampf mit Freuden, und es ist eine Freude zu leben.

Werfen wir einen Blick auf die politischen und ökonomischen Fragen, die der Beurteilung der großen Massen und dem Urteilsspruch am 12. Januar unterliegen. Man muß mit dem allernächsten anfangen, mit dem ökonomischen Dasein der Masse, mit dem täglichen Brot.

In Deutschland haben wir keine Hungerrevolten gehabt. Allein, ich möchte sehen, wer es wagen würde zu behaupten, daß in Deutschland keine Not existiere. Nun, wir wissen alle, daß die Not hier kein Jota

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[1] Die Metallindustriellen Berlins hatten am 30. November 1911 zur Unterdrückung eines Streiks der Former und Gießer 60 Prozent der Berliner Metallarbeiter ausgesperrt. Nach einer Einigung zwischen Gießereiarbeitern und Unternehmern, die zu Zugeständnissen gezwungen waren, wurde am 6. Dezember die Aussperrung aufgehoben.