Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 73

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geringer ist als überall. Und wenn es nicht zu Krawallen gekommen ist, ist das niemand anderem zu danken als uns und der jahrzehntelangen Aufklärung und Erziehung der Arbeiter. Niemand anders kann es auf sein Konto schreiben, daß die Masse gelernt hat, daß Verbesserungen nicht durch stürmische, planlose Protestbewegungen auf der Straße, sondern nur durch ein planmäßiges, geschlossenes Vorgehen zu erreichen sind.

In Deutschland gibt es Not in Hülle und Fülle. Und deshalb ist es äußerst wichtig, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wo die Quelle der heute herrschenden Not liegt. Namentlich liegt es im Interesse der proletarischen Frauen, sich darüber Aufschluß zu verschaffen. Wenn wir politische Gleichberechtigung für die Frauen fordern, wird von bürgerlicher Seite geantwortet, die Frau sei zu dumm für Politik, ihre Aufgabe sei der Kochtopf und die Kinderwiege. Allein, ich glaube, daß die Frauen, die es bei dieser Not fertigbringen, mit dem kargen Verdienst ihrer Männer die Familien durchzubringen und die Kinder zu ehrlichen Menschen zu erziehen, daß diese Frauen ihr Reifezeugnis abgelegt haben und jeden deutschen Minister in die Tasche stecken.

Eine Teuerung herrscht heute, wie wir sie seit langem nicht gehabt haben. Das ist an und für sich keine neue Erscheinung. Wir haben in früheren Jahrhunderten schon Teuerungen gehabt. Allein, das ist bezeichnend, daß in allen den Fällen früher natürliche Ursachen vorhanden waren, mochte es eine Mißernte, die Pest, Krieg usw. sein. Heute haben wir eine beispiellose Hungersnot ohne besondere Mißernte und ohne daß in Europa die Pest gewütet hat. Diese Teuerung kommt daher, daß wir heute unter einem Übel zu leiden haben, unter einer Plage, die viel schlimmer ist als Mißernten, die Pest und der Krieg zusammen, und das sind die Klassenherrschaft und das konservative Junkertum in Deutschland. Das ist bezeichnend, daß wir eine künstlich fabrizierte, planmäßig herbeigeführte Hungersnot haben, und das sind Dinge, die wir erst in der höchsten Blüte der kapitalistischen Kultur fertiggebracht haben. Das wichtigste und probateste Mittel dazu sind die indirekten Steuern und Zölle, und in dieser Beziehung schreitet Deutschland in der Welt voran.

Nach der Gründung des Reichs, 1873, betrugen die indirekten Steuern und Zölle 400 Millionen Mark, 1910 aber 1980 Millionen Mark. Das ist eine ungeheure Steigerung. Fast 2 Milliarden muß die Bevölkerung vom täglichen Verbrauch entrichten. Man würde sich aber irren, wenn man glauben würde, diese Summe bedeute den gesamten Tribut der deutschen Bevölkerung für Lebensmittel. Das ist nur der Teil, der in die

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