Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 74

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Staatskasse fließt. Daneben bieten die Zölle und indirekten Steuern für die Agrarier und Industriebarone ein probates Mittel, sich auf Kosten der Bevölkerung einen Extraprofit in die Tasche zu stecken. Im ganzen Deutschen Reich zusammen mit den einzelnen Bundesstaaten beträgt die Gesamtbelastung fast 4 Milliarden Mark. Als im Jahre 1871 der „Erbfeind“ niedergeworfen war, mußte er 4 Milliarden Mark Entschädigung zahlen, so viel, wie die deutsche Bevölkerung an indirekten Steuern und Zöllen zahlen muß. Aber der Erbfeind ist besser weggekommen als das deutsche Volk, das diese ungeheure Summe jahrein, jahraus zahlen muß.

Man hat berechnet, daß bei dieser Belastung auf den Kopf der Bevölkerung 641/2 Mark und auf die Familie 290 Mark im Jahre kommen. Man muß sich fragen, wie eine Familie mit einem Einkommen von 900 bis 1000 Mark – und es gibt nicht wenig Familien in Deutschland (Landarbeiter, Arbeiter in der Heimindustrie), die ein viel geringeres Einkommen haben – eine solche Last tragen kann. Ich kenne eine Familie mit zahlreichen Kindern, die es im letzten Jahre verstanden hat, ihr Einkommen um rund 3 Millionen Mark zu erhöhen: die Familie Hohenzollern. Aber so schön und leicht haben es nicht viele Familien, einfach aus der Tasche andrer durch Beschluß einer gefügigen Mehrheit 3 Millionen in ihre Tasche fließen zu lassen[1] unter dem Vorwand, daß man zu viel Kinder in die Welt gesetzt habe und schlechte Zeiten seien. Der Arbeiter hat es nicht so leicht, und deshalb löst sich die mathematische Aufgabe auf in den krassen Ziffern der Sterblichkeit, im Rückgang des Fleisch- und Milchkonsums usw., im langsamen Verhungern der Masse der Bevölkerung.

Wir wollen gemäß und getreu den Grundsätzen der Sozialdemokratie an den Verstand appellieren. Wir wollen die Frage dieser unerhörten Besteuerung auch noch von der Seite betrachten, von der sie uns von unsern Gegnern gewöhnlich mundgerecht gemacht wird. Sie sagen: Ihr habt gut euch entrüsten. Allein, wie wollt ihr so große Staatswesen regieren und verwalten? Der Staat hat heute enorme öffentliche Aufgaben zu lösen. Dazu gehören enorme Mittel, woher wollt ihr die nehmen, wenn nicht durch Besteuerung der Bevölkerung? Wir Sozialdemokraten, die wir nüchterne Politiker sind, antworten darauf: Jawohl, es soll gar nicht bestritten werden. Wir haben Aufgaben, die wir gar nicht lösen, wir

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[1] Am 9. Juni 1910 war im preußischen Abgeordnetenhaus gegen die Stimmen der Sozialdemokraten der Gesetzentwurf über die Erhöhung der Krondodation angenommen worden. Die Vorlage brachte für den preußischen Hof eine zusätzliche Bewilligung von 3,5 Millionen Mark, so daß ihm jährlich insgesamt 19,2 Millionen Mark aus staatlichen Mitteln zur Verfügung gestellt werden mußten.