Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 220

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Lassalles Erbschaft

„Huttens Irrtum ist nur der aller prophetischen Naturen gewesen, zugleich und in einem als glänzendes Ideal zu schauen und zu begehren, was die Menschheit nur Schritt um Schritt und Stück für Stück in jahrhundertelangem Ringen erreichen kann.“ Mit diesen Worten schließt David Friedrich Strauß seinen „Hutten“. Und was von diesem, gilt in gleichem Maße von Lassalle. Jahrhunderte kommen freilich bei dem rasenden Tempo der heutigen kapitalistischen Entwicklung nicht mehr in Betracht. Aber was Lassalle in zwei Jahren flammender Agitation der Geschichte abtrotzen wollte, das hat zu seinem Werden vieler Jahrzehnte bedurft. Doch gerade jener optischen Täuschung, der prophetische Naturen unterliegen, daß sie wie Riesen von ihren Berggipfeln die fernen Horizonte zum Greifen nahe wähnen, verdanken wir die kühne Tat, aus der die deutsche Sozialdemokratie hervorgegangen ist. Die Entstehung einer eigenen Klassenpartei des Proletariats war geschichtliche Notwendigkeit, sie war in dem kapitalistischen Wirtschaftsgetriebe wie in dem politischen Wesen des bürgerlichen Klassenstaats gegeben. Mit oder ohne Lassalle wäre die deutsche Sozialdemokratie entstanden, wie mit oder ohne Marx und Engels der Klassenkampf des internationalen Proletariats der herrschende Faktor der neuzeitlichen Geschichte geworden wäre. Daß aber die proletarische Klassenpartei in Deutschland schon vor fünfzig Jahren, reichlich zwei Jahrzehnte früher als in allen anderen Ländern und vorbildlich für alle anderen, daß sie mit solchem Glanze und Adel in die Schranken getreten ist, das verdankt sie dem Lebenswerk Lassalles und seinem „Ich hab’s gewagt!“.

Klassenkämpfe sind die treibende Kraft und der Kern der Weltgeschichte, seit das Privateigentum die Scheidung der menschlichen Ge-

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