Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 96

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reifer geworden. Wir haben nicht einen Rückgang, sondern einen gewaltigen Aufschwung des Imperialismus und damit eine immer größere Zuspitzung der Klassengegensätze zu gewärtigen. Und dementsprechend haben wir auch als Signatur der Lage im neuen Reichstag nicht einen Gegensatz von „rechts“ und „links“, sondern nach wie vor den alten Gegensatz der gesamten bürgerlichen Parteien zur Sozialdemokratie. Dies so scharf wie nur möglich den Volksmassen zum Bewußtsein zu bringen entgegen allen Faseleien der liberalen Geschichtsfälschung, das ist die erste dringende Aufgabe unserer Partei.

Ein neuer wichtiger Tatbestand und in diesem Sinne eine neue Situation ist allerdings durch die letzten Wahlen geschaffen worden. Es ist der beispiellose Machtzuwachs der Sozialdemokratie als der Frucht der scharfen Klassenentwicklung und der Trägerin des revolutionären proletarischen Klassenkampfes. Ein solcher Machtzuwachs legt unserer Partei Verpflichtungen auf. Die gewaltige Stärkung unserer Anhängermassen nicht zu nützen, um für das klassenbewußte Proletariat neue Eroberungen zu machen, um die Sache des Sozialismus vorwärtszubringen, würde beweisen, daß wir den Sieg nicht verdient haben.

2. Unsere Aufgaben

Für liberale Politiker ist natürlich die erste Sorge nach dem großen Wahlkampf die weltbewegende Frage: Wer wird der Präsident des Reichstags sein? Eine herzlich gleichgültige Sache aber ist der Präsidentenposten im bürgerlichen Parlament bei einer Dreiviertelmehrheit, zu der wir uns in allen Lebensfragen des Volkes im denkbar schärfsten Gegensatz befinden, für eine Partei wie die Sozialdemokratie, deren Macht nicht im Parlament, nicht in parlamentarischen Schachzügen und Kulissenschiebereien liegt, sondern draußen in den 41/4 Millionen Volksmassen. Bringt dieser Posten uns gar in Widerspruch mit unseren republikanischen Grundsätzen, so kann er uns ruhig durch irgendeinen liberalen Spezialisten parlamentarischer Wichtigtuerei gestohlen werden. Die hungrigen und geknechteten Millionen, die ihr Hoffen auf uns gesetzt, ihr Vertrauen uns geschenkt haben, brauchen unsererseits wirkliche Machtstellung, nicht dekorative Scheinposten in einem Parlament, in dem wir keine Mehrheit haben. Und eine wirkliche Machtstellung im Parlament kann sich unsere Partei nur schaffen durch die Gründlichkeit, Schärfe und Entschlossenheit ihrer Kampftaktik. Als die weitaus stärkste Partei des

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