Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 95

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in den letzten Jahren machtvoll und mit so schwindelnder Schnelle fortschreitet, das imperialistische Zeitalter der Weltpolitik, das mit Pauken und Trompeten eben eingesetzt hat, werden durch keine parlamentarischen Kunststückchen aus der Welt geschafft. Ihre eherne Logik führt aber zu einer immer tieferen Zerklüftung der bürgerlichen Gesellschaft, und ihr eherner Schritt zerstampft erbarmungslos die letzten Reste dessen, was sich bürgerlicher Liberalismus und bürgerlicher Fortschritt nennt. Eine Auferstehung des bürgerlichen Liberalismus in Deutschland zur gemeinsamen Aktion mit der Sozialdemokratie gegen die Reaktion – ausgerechnet jetzt, in der Zeit des wachsenden Imperialismus – kann denn auch nichts anderes als ein narrender Traum, nichts als eine Spielmarke sein. Für bare Münze können dieses Blechplättchen nur diejenigen ausgeben, die ein Interesse an der Verwirrung des Klassenbewußtseins im Proletariat haben.

Mögen deshalb freisinnige Organe vom Schlage des „Berliner Tageblatts“ oder Politiker von der Art des Herrn Haußmann freudige Purzelbäume schlagen und auf den Trümmern des Schwarz-Blauen Blocks triumphierend die Fahne der vereinigten Linken hissen – jener „Linken“, deren Mehrheit dieselbe Nationalliberale Partei umschließen soll, die das „Berliner Tageblatt“ selbst erst gestern in einem lichten Augenblick „ein gefallenes Mädchen“ genannt hat. Die Sozialdemokratie kann ihre Hoffnungen und ihre Kampfstellung nicht auf die „gefallenen Mädchen“ des bürgerlichen Liberalismus stützen. Sie muß sich vielmehr in nüchterner Erkenntnis sagen: Die schwarz-blauen Parteien sind geschlagen, aber die schwarz-blaue Politik bleibt die herrschende. Die nächste Militärvorlage wird zeigen, daß die Sozialdemokratie im neuen Reichstag gegen die Reaktion so einsam dasteht wie je. Wer aber für den Militarismus und Imperialismus ist, der muß auch für die indirekten Steuern und Zölle sein, die zu jenen gehören, wie das B dem A folgt. Die geschlossene Mehrheit der bürgerlichen Parteien bei Militär- und Kolonialfragen wird bei Steuer- und Zollfragen höchstens durch einen häuslichen Streit etwas erschüttert werden, um das größere oder kleinere Feigenblatt einer Erbschaftssteuer, das den Raub an der arbeitenden Volksmasse verdecken soll. Die Fragen des Militarismus und Imperialismus stellen heute die Zentralachse des politischen Lebens dar, in ihnen und nicht etwa in der Frage der Ministerverantwortlichkeit und anderen rein parlamentarischen Forderungen liegt der Schlüssel zur politischen Lage. Und von hier aus gesehen, zeigt sich als Ergebnis des großen Wahlkampfes für uns die Erkenntnis: Die politische Situation ist dieselbe geblieben, sie ist nur

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