Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 159

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Frauenwahlrecht und Klassenkampf

„Warum gibt es in Deutschland keine Arbeiterinnen-Vereine? Warum hört man so wenig von der Arbeiterinnenbewegung?“[1] Mit diesen Worten leitete eine der Gründerinnen der proletarischen Frauenbewegung in Deutschland, Emma Ihrer, im Jahre 1898 ihre Schrift ein „Die Arbeiterinnen im Klassenkampf“. Kaum vierzehn Jahre sind seitdem verflossen, und heute ist die proletarische Frauenbewegung in Deutschland mächtig entfaltet. Mehr als hundertfünfzigtausend gewerkschaftlich organisierte Arbeiterinnen bilden mit die Kerntruppen des wirtschaftlich kämpfenden Proletariats. Viele Zehntausende politisch organisierter Frauen sind um das Banner der Sozialdemokratie geschart; das sozialdemokratische Frauenorgan zählt über hunderttausend Abonnenten; die Forderung des Frauenwahlrechts steht auf der Tagesordnung des politischen Lebens der Sozialdemokratie.

Manch einer könnte gerade aus diesen Tatsachen heraus die Bedeutung des Kampfes um das Frauenwahlrecht unterschätzen. Er könnte denken: Auch ohne die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts haben wir glänzende Fortschritte in der Aufklärung und Organisierung der Frauen erzielt, das Frauenwahlrecht ist wohl auch weiterhin keine dringende Notwendigkeit. Doch wer so denkt, unterliegt einer Täuschung. Die großartige politische und gewerkschaftliche Aufrüttelung der Massen des weiblichen Proletariats in den letzten anderthalb Jahrzehnten ist nur deshalb möglich geworden, weil die Frauen des arbeitenden Volkes trotz ihrer Entrechtung am politischen Leben und an den parlamentarischen Kämpfen ihrer Klasse den regsten Anteil nehmen. Die Proletarierinnen zehren bis jetzt vom Wahlrecht der Männer, an dem sie tatsächlich teil‑

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[1] Emma Ihrer: Die Arbeiterinnen im Klassenkampf, Hamburg 1898, S. 3.