Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 158

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namentlich auch der Fortschrittler in der Geschäftsordnungskommission und in den anderen Kommissionen des Reichstags, sogar dort, wo es sich um reine Rechtsfragen des Reichstags gegenüber der Regierung handelt, sogar da knickt der Liberalismus elend zusammen. Und braucht man erst auf die kommende Wehrvorlage hinzuweisen? Niemals ward ein schädlicheres Wort ausgesprochen als das des „Vorwärts“, als hätten wir die Regierung jetzt zur Ohnmacht verurteilt. Im Gegenteil, unser ganzes Interesse und unsere Pflicht besteht darin, den Massen klaren Wein einzuschenken und alle Illusionen beiseite zu schieben, die sich etwa an unseren Wahlsieg unmittelbar knüpfen könnten. Man hat uns Antiparlamentarismus in die Schuhe zu schieben versucht. Nichts ist so gefährlich in dem Sinne, daß es wirklich antiparlamentarische Anwandlungen in den Massen nähren kann, als solche übertriebenen parlamentarischen Illusionen. („Sehr wahr!“) Wenn wir solch übertriebene Hoffnung in den Massen nähren, so wird sich das in wenigen Jahren bitter rächen. Die Massen werden kommen und fragen: Wo sind denn die Wunderwirkungen eures parlamentarischen Sieges? Solche allgemeinen, falschen theoretischen Perspektiven müssen mit allem Nachdruck bekämpft werden. Mein Vorredner hat ja gezeigt, wohin die Konsequenzen dieser Stellungnahme führen. Er hat ja nichts anderes befürwortet als die famose süddeutsche Großblockpolitik und alle Kompromisse[1], die dort seit Jahr und Tag Wirklichkeit geworden sind. Der Artikel des Genossen Puchta in der letzten Nummer der „Neuen Zeit“ über das Landtagswahlkompromiß in Bayern zeigt, welcher Katzenjammer jetzt schon dort eingezogen ist nach dem angeblich herrlichen Siege in einem Wahlkampf, in dem wir Sozialdemokraten zu einem Brei mit den Bürgerlichen geworden sind und gemeinsame Kandidaten aufgestellt haben.[2] Das aber ist die logische Konsequenz beim Fortschreiten auf dem Wege, auf den sich der Parteivorstand begeben hat mit dem Stichwahlabkommen. Es ist deshalb außerordentlich wichtig, im Interesse der Gesamtpartei und der politischen Entwicklung zu sagen: Diese Praxis mit dem Stichwahlabkommen – bis hierher und nicht weiter! (Lebhafter anhaltender Beifall.)

Vorwärts (Berlin), Nr. 78 vom 2. April 1912.

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[1] Unter dem Vorwand, den reaktionärsten Parteien, den Konservativen und dem Zentrum, eine „aktionsfähige Mehrheit“ entgegenzustellen, hatten die Sozialdemokraten im badischen Landtag 1910 mit den Liberalen einen Block gebildet. Mit diesem „Großblock“, der anläßlich der Landtagswahlen 1913 erneuert wurde, setzten sie sich in Widerspruch zu den Grundsätzen und Beschlüssen der Sozialdemokratischen Partei und unterstützten die Politik der bürgerlichen Regierung. – Unter Mißachtung der Grundsätze und Beschlüsse der Sozialdemokratischen Partei hatte die sozialdemokratische Fraktion des bayrischen Landtags am 13. August 1908 und die des badischen Landtags am 12. August 1908 wie auch am 14. Juli 1910 dem Landesbudget zugestimmt.

[2] Fritz Puchta: Die Landtagswahlen in Bayern. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 924–934. — Im Dezember 1911 hatte der Landesvorstand der bayrischen Sozialdemokratie ohne Rücksprache mit den unteren Instanzen und gegen den Willen großer Teile der Mitgliedschaft mit den Liberalen, dem bayrischen und dem deutschen Bauernbund ein Kompromiß für die Landtagswahlen in Bayern abgeschlossen. Trotz dieses Wahlbündnisses konnte das Zentrum bei den Wahlen am 5. Februar 1912 die absolute Mehrheit der Landtagsmandate erobern.