Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 195

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Das belgische Experiment

I

Leipzig, 15. Mai Der belgische Generalstreik[1] verdient nicht bloß als eine hervorragende Kraftanstrengung und Kampfleistung der proletarischen Masse Sympathie und Bewunderung der internationalen Sozialdemokratie, sondern ist ebensosehr geeignet, Gegenstand ernster kritischer Prüfung und dadurch Quelle der Belehrung für sie zu werden. Der zehntägige Streik im April ist nur eine Episode, ein neuer Abschnitt in der langen Reihe von Kämpfen des belgischen Proletariats um das allgemeine, gleiche Wahlrecht gewesen, die seit Beginn der 90er Jahre dauern und allem Anschein nach von ihrem Abschluß noch weit entfernt sind. Wollen wir also nicht im Tone des Offiziösentums stets und lediglich Beifall klatschen zu allem, was die sozialdemokratische Partei tut und läßt, so haben wir uns angesichts des neuen hervorragenden Anlaufs der belgischen Arbeiterpartei im Wahlrechtskampf zu fragen: Bedeutet dieser Generalstreik einen Schritt vorwärts auf der allgemeinen Kampflinie? Bedeutet er insbesondere eine neue Kampfform, neue taktische Wendung, die von nun an die Kampfmethoden des belgischen und vielleicht des internationalen Proletariats zu bereichern berufen wäre?

Die letzte Frage ist um so berechtigter, als die belgischen Parteiführer – und zwar ohne Unterschied der taktischen Stellung – den Aprilstreik mit viel Nachdruck den früheren belgischen Wahlrechtsstreiks wie den bekannten Massenstreiks, die wir in andern Ländern erlebt haben, entgegenstellen und als eine neue Waffe im Arsenal des kämpfenden Proletariats preisen. In der kleinen Herstaler Monatsschrift „La lutte de classe“ (Klassenkampf) schrieb de Brouckère im März:

„Es ist das drittemal, daß wir für das gleiche Wahlrecht streiken wer-

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[1] Am 14. April 1913 begann in Belgien ein politischer Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht, der seit Juni 1912 durch ein spezielles Komitee organisatorisch, finanziell und ideologisch im ganzen Lande sorgfältig vorbereitet worden war. An dem Streik beteiligten sich etwa 450 000 Arbeiter. Am 24. April 1913 beschloß der Parteitag der belgischen Arbeiterpartei den Abbruch des Streiks, nachdem sich das belgische Parlament dafür ausgesprochen hatte, die Reform des Wahlrechts in einer Kommission erörtern zu lassen.