Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 194

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Kampfes geworden. Als Demonstration, als Kampfwaffe kehrt er in unzähligen Formen und Schattierungen in allen Ländern seit bald fünfzehn Jahren wieder. Als Zeichen der revolutionären Wiederbelebung des Proletariats in Rußland[1], als zähes Kampfmittel in der Hand des belgischen Proletariats[2] hat er soeben erst seine lebendige Macht bewährt. Und die nächste brennendste politische Frage Deutschlands, das preußische Wahlrecht, weist von selbst durch seine bisherige Versumpfung auf eine steigende Massenaktion des preußischen Proletariats bis zum Massenstreik als die einzige mögliche Lösung hin.

Kein Wunder! Die ganze Entwicklung, die Gesamttendenz des Imperialismus im letzten Jahrzehnt führte dahin, der internationalen Arbeiterklasse immer deutlicher und greifbarer vor die Augen zu führen, daß nur das eigene Auftreten der breitesten Massen, ihre eigenen politischen Aktionen, Massendemonstrationen, Massenstreiks, die früher oder später in eine Periode revolutionärer Kämpfe um die Macht im Staate ausmünden müssen, die richtige Antwort des Proletariats auf den unerhörten Druck der imperialistischen Politik abgeben können. In diesem Augenblick des Rüstungswahnsinns und der Kriegsorgien ist es nur die entschlossene Kampfstellung der Arbeitermassen, ihre Fähigkeit und Bereitschaft zu machtvollen Massenaktionen, was den Weltfrieden noch erhalten, drohenden Weltbrand noch hinausschieben kann. Und je mehr der Maigedanke, der Gedanke der entschlossenen Massenaktionen als Kundgebung des internationalen Zusammenschlusses und als Kampfmittel für den Frieden und für den Sozialismus auch in dem stärksten Trupp der Internationale, in der deutschen Arbeiterschaft, Wurzel schlagen wird, um so größere Gewähr haben wir, daß aus dem früher oder später unvermeidlichen Weltkrieg eine endgültige und siegreiche Auseinandersetzung zwischen der Welt der Arbeit und der des Kapitals sich ergeben wird.

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 98 vom 30. April 1913.

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[1] Seit Ende 1910 zeigte sich in Rußland eine Belebung der Arbeiterbewegung. Die Arbeiter gingen von defensiven zu offensiven Streiks und von Aktionen in einzelnen Betrieben zu Massenstreiks über. Erstmals fanden auch wieder politische Demonstrationen statt. Die Zahl der Arbeiter, die sich an politischen Streiks beteiligten, nahm merklich zu. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Streikenden stieg sie von 8,1 Prozent im Jahre 1910 auf 75,8 Prozent im Jahre 1912.

[2] Am 14. April 1913 begann in Belgien ein politischer Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht, der seit Juni 1912 durch ein spezielles Komitee organisatorisch, finanziell und ideologisch im ganzen Lande sorgfältig vorbereitet worden war. An dem Streik beteiligten sich etwa 450 000 Arbeiter. Am 24. April 1913 beschloß der Parteitag der belgischen Arbeiterpartei den Abbruch des Streiks, nachdem sich das belgische Parlament dafür ausgesprochen hatte, die Reform des Wahlrechts in einer Kommission erörtern zu lassen.