Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 193

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/193

Das Zeichen, unter dem sich diese ganze Entwicklung auf wirtschaftlichem und politischem Gebiete vollzogen hat, die Formel, auf die sich ihre Ergebnisse zurückführen lassen, heißt Imperialismus. Kein neues Element, keine unerwartete Wendung ist es in der allgemeinen historischen Bahn der kapitalistischen Gesellschaft. Rüstungen und Kriege, internationale Gegensätze und Kolonialpolitik begleiten die Kapitalsgeschichte von ihrer Wiege an. Es ist die äußerste Steigerung dieser Elemente, ein Zusammenrücken, ein gigantisches Auftürmen dieser Gegensätze, was eine neue Epoche im Werdegang der heutigen Gesellschaft ergeben hat. In dialektischer Wechselwirkung, zugleich Folge und Ursache der gewaltigen Kapitalakkumulation und der mit ihr gegebenen Verschärfung und Zuspitzung des Gegensatzes im Innern zwischen dem Kapital und der Arbeit, auswärts zwischen den kapitalistischen Staaten, hat der Imperialismus die Schlußphase, die gewaltsame Weltaufteilung durch das stürmende Kapital eröffnet. Eine Kette unaufhörlicher, unerhörter Rüstungen zu Lande und zu Wasser in allen kapitalistischen Staaten um die Wette, eine Kette blutiger Kriege, die von Afrika auf Europa übergegriffen haben und jeden Augenblick den zündenden Funken zu einem Weltbrand abgeben können, dazu seit Jahren das nicht mehr zu bannende Gespenst der Teuerung, des Massenhungers in der ganzen kapitalistischen Welt – das sind die Zeichen, unter denen der Weltfeiertag der Arbeit nach bald einem Vierteljahrhundert seines Bestehens heraufzieht. Und jedes dieser Zeichen ist ein flammendes Zeugnis für die lebendige Wahrheit und Macht der Ideen der Maifeier.

Der geniale Hauptgedanke des Maifestes, das ist das eigene unmittelbare Auftreten der proletarischen Massen, das ist die politische Massenaktion der Millionen Arbeitenden, die sonst im parlamentarischen Alltag, getrennt durch staatliche Schranken, meist nur durch den Stimmzettel, durch Wahlen ihrer Vertreter dem eigenen Willen Ausdruck verleihen können. Der ausgezeichnete Vorschlag des Franzosen Lavigne auf dem Internationalen Kongreß in Paris[1] fügte diesen parlamentarischen, indirekten Willenskundgebungen des Proletariats eine direkte internationale Massenkundgebung, die Arbeitsniederlegung als Demonstration und Kampfmittel für den Achtstundentag, den Weltfrieden und den Sozialismus, hinzu.

Und in der Tat: Welchen Aufschwung hat dieser Gedanke, hat diese neue Kampfform in dem letzten Jahrzehnt genommen! Der Massenstreik ist zur international anerkannten, unentbehrlichen Waffe des politischen

Nächste Seite »



[1] Der Internationale Arbeiterkongreß in Paris fand vom 14. bis 20. Juli 1889 statt.