Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 192

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schen Kulturentwicklung setzte seit Ende der neunziger Jahre eine Periode der gewalttätigsten, schärfsten Zuspitzung der kapitalistischen Gegensätze ein, ein Stürmen und Drängen, ein Krachen und Aufeinanderprallen, ein Wanken und Beben in den Grundfesten der Gesellschaft. Über die zehnjährige Periode wirtschaftlichen Aufschwungs quittierten in dem folgenden Jahrzehnt zwei erschütternde Weltkrisen. Auf zwei Jahrzehnte des Weltfriedens folgten in dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts sechs blutige Kriege und im ersten des neuen vier blutige Revolutionen. Statt der Sozialreformen – Umsturzvorlagen[1], Zuchthausvorlage[2] und Zuchthauspraxis, statt der industriellen Demokratie – der gewaltige Zusammenschluß des Kapitals in Kartellen und Arbeitgeberverbänden und die internationale Praxis der Riesenaussperrungen. Und statt des neuen Aufschwungs der Demokratie im Staate ein elender Zusammenbruch der letzten Reste des bürgerlichen Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie. In Deutschland allein haben die Schicksale der bürgerlichen Parteien seit den neunziger Jahren gebracht das Aufkommen und alsbaldige hoffnungslose Zerrinnen der Nationalsozialen[3], die Zersplitterung der freisinnigen Opposition und die Wiedervereinigung ihrer Splitter im Morast der Reaktion[4], endlich die Umwandlung des Zentrums aus einer radikalen Volkspartei in eine konservative Regierungspartei. Und ähnlich waren die Verschiebungen in der Parteientwicklung anderer kapitalistischer Länder. Überall sieht sich die revolutionäre Arbeiterschaft heute allein einer geschlossenen feindseligen Reaktion der herrschenden Klassen und ihren tückischen Streichen gegenüber, auf sich allein gestellt.

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[1] Am 6. Dezember 1894 hatte die Regierung im Reichstag den „Entwurf eines Gesetzes betr. Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse“ eingebracht. Diese sogenannte Umsturzvorlage sollte die Unterdrückungspolitik gegen die Sozialdemokratie gesetzlich sanktionieren. Angesichts der Massenproteste, besonders des energischen Kampfes der Sozialdemokratie, wurde die Vorlage in zweiter Lesung am 11. Mai 1895 im Reichstag abgelehnt.

[2] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und des Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden.

[3] Der 1896 von Friedrich Naumann gegründete Nationalsoziale Verein löste sich im August 1903 auf, nachdem das Ergebnis der Reichstagswahl im Juni 1903 gezeigt hatte, daß er seine Aufgabe, die Arbeiterklasse durch soziale Versprechungen und chauvinistische Losungen zu gewinnen, nicht erfüllt hatte. Der größte Teil der Nationalsozialen ging zur Freisinnigen Vereinigung über.

[4] Im Zusammenhang mit der Zustimmung einiger einflußreicher Mitglieder der Deutschen Freisinnigen Partei zur Militärvorlage am 6. Juni 1893 hatte sich diese Partei in die Freisinnige Vereinigung und die Freisinnige Volkspartei gespalten. Beide Parteien vereinigten sich mit der Deutschen Volkspartei am 6. März 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei, einer liberalen Partei mit ausgeprägt imperialistischen Zügen.