Der „Vorwärts“ und die Milizforderung
In Beantwortung unsrer beiden Leitartikel[1], die in rein sachlicher Weise unter Anführung einer Reihe von Tatsachen die Mängel der Parteiaktion gegen die Militärvorlage zu beleuchten suchten, weiß das Zentralorgan nichts andres ins Feld zu führen als das billige und verschlissene Argument, die kritischen Artikel lieferten den französischen Chauvinisten den erwünschten Beweis, daß die deutsche Sozialdemokratie „imperialistisch“ sei.[2] Der „Vorwärts“ ist nicht einmal in diesem Falle originell, er wiederholt bloß wörtlich, was Genosse Gradnauer im Dresdner Blatte[3] vor einigen Tagen gegen die Resolution der Stuttgarter Genossen[4] als einziges Argument vorzubringen wußte: Es ist dies eben das bequemste Mittel, der lästigen Kritik in der Partei den Mund zu verschließen, wenn es um die sachliche Antwort windig steht. In seiner eigenen Sache beruft sich der „Vorwärts“ darauf, daß er nicht „auf die Milizforderung überhaupt verzichtet hätte“, sondern bloß nach Erscheinen der französischen Heeresvorlage[5] – um den Kampf der französischen Genossen gegen die dreijährige Dienstzeit „nicht unwesentlich zu fördern“ – „eine Teilforderung“, nämlich die zweijährige Dienstzeit für die berittenen Truppen, vertreten hätte. Es fiel uns nicht ein, dem Zentralorgan einen „Verzicht auf die Milizforderung überhaupt“ vorzuwerfen: Hätte es sich diesen zuschulden kommen lassen, dann müßte es als Organ der sozialdemokratischen Partei abdanken. Was ihm in der „Leipziger Volkszeitung“ vorgeworfen wurde, war gerade, daß es die Programmforderung der Miliz, die eine
[1] Siehe Rosa Luxemburg: Unsere Aktion gegen die Militärvorlage. In: GW, Bd. 3, S. 225–233.
[2] Siehe Wir und die Milizforderung. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 143 vom 10. Juni 1913.
[3] Siehe Ein Stuttgarter Fehlschluß. In: Dresdner Volkszeitung, Nr. 120 vom 28. Mai 1913.
[4] Die Generalversammlung des sozialdemokratischen Vereins für den ersten württembergischen Wahlkreis Stuttgart-Stadt und -Land verlangte in einer einstimmig angenommenen Resolution von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ein schärferes Vorgehen gegen die Rüstungs- und Deckungsvorlage (Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10 000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sogenannten Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß mit Verweis auf die Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“) und empfahl das Mittel der Obstruktion. Der Parteivorstand wurde aufgefordert, über eine Versammlungskampagne hinaus eventuell den Massenstreik einzuleiten.
[5] Die französische Regierung unterbreitete am 6. März 1913 eine Gesetzesvorlage zur Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit, wodurch die zahlenmäßige Stärke der Armee in Friedenszeiten um 50 Prozent erhöht wurde. Das Gesetz wurde am 7. Juli 1913 vom Parlament angenommen.