Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 237

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Plenarverhandlungen der zweiten Lesung bieten eine günstige Gelegenheit, die Massenagitation von neuem zu entfachen, den neuen Stoff, den der Reichstag bietet, wieder in großen Versammlungen und Demonstrationen zu verwerten, den Kampfgeist wieder zu beleben.

Dies zu besorgen ist aber Sache nicht der Fraktion vor allem, sondern der Partei, der Organisationen selbst. Es will uns nicht als das beste Mittel zur Aufrüttelung der Massen heute erscheinen, ihre ganze Aufmerksamkeit und ihre Erwartungen auf den Hokuspokus der technisch-parlamentarischen Schachzüge zu lenken. Psychologisch unvermeidlich ergibt sich dann in den weiten Volkskreisen die Vorstellung, daß die eigentlichen Handelnden, die Helden des Dramas – die Parlamentarier seien, während die Masse nur die Zuschauer bilde. In der Massenaktion liegt auf jeden Fall, im ersten und im letzten Grunde der Schwerpunkt. Sie zu entfachen, mit großen Massenversammlungen und Demonstrationen die zweite Lesung der Wehrvorlage im Reichstag zu begleiten, das ist jetzt Pflicht und Aufgabe der Genossen im Lande. Daß die Wehrvorlage schon nach der zweiten Lesung der Budgetkommission „so gut wie angenommen ist“, kann nur jemanden beirren, der, wie die Chemnitzer „Volksstimme“ scheint’s, der trügerischen Hoffnung lebte, die Fortschritte des Imperialismus im heutigen bürgerlichen Parlament faktisch verhindern zu können. Wem es auf die Ausnützung der Militärvorlage zur Mobilmachung der Volksmassen ankommt, der kann die zweite Lesung im Plenum als neue Gelegenheit ergreifen. Und wenn sich die Masse der Partei selbst tüchtig rührt, dann wird auch die Fraktion naturgemäß dafür sorgen müssen, daß ihr der Anlaß und die Möglichkeit dazu solange wie möglich erhalten bleibt.

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 132 vom 11. Juni 1913.

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