Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 236

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Die Absicht, die Annahme des Wehrgesetzes zu beschleunigen, lag unsrer Fraktion sicher so fern, wie sie für die gesamte Partei undenkbar ist. Die Nationalliberalen und der Freisinn haben freilich ein wohlverstandenes Interesse daran, die Wehrvorlage nicht nur von der Deckungsfrage zu trennen, sondern sie auch schleunigst der Regierung zu apportieren. Hierin liegt aber trotz des beabsichtigten teilweisen Zusammenwirkens bei der Deckungsvorlage der prinzipielle Gegensatz zwischen unsrer Partei einer- und den Liberalen anderseits. Diesen grundsätzlichen Standpunkt hat nun die Fraktion volle Möglichkeit, jetzt im Plenum mit der nötigen Deutlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Ist auf die erste Lesung der Wehrvorlage sogleich die zweite gefolgt, so ergibt sich daraus mitnichten, daß sich an die zweite Lesung nun auch die dritte prompt anschließen müßte. Weder die Geschäftsordnung des Reichstags – die nur eine Minimalfrist zwischen der zweiten und dritten Lesung des Gesetzes vorsieht – noch die Sachlage selbst bedingen dies im geringsten. Im Gegenteil, das Zentrum und die konservativen Fraktionen haben bereits im Plenum ihre Verwahrungen gegen die endgültige Erledigung der Wehrvorlage vor der Deckungsvorlage ausgesprochen. In bezug auf die zweite Lesung hatten diese Verwahrungen nur den Wert eines Stoßseufzers, weil unsre Partei die Waagschale gegen die Schwarzblauen herabzog. Aus demselben Grunde jedoch hat unsre Fraktion die volle Möglichkeit, nunmehr im Plenum – nach Erledigung der zweiten Lesung – mit dem Zentrum und den Konservativen eine Mehrheit gegen die sofortige Vornahme der dritten Lesung und für ihre Hinausschiebung bis nach der Deckungsvorlage herzustellen. Nur in einem Falle konnte sie es nicht: wenn sie sich nämlich bereits in der Budgetkommission irgend jemandem gegenüber endgültig festgelegt, sich von den Liberalen die Hände hätte binden lassen. Doch dies ist völlig ausgeschlossen. Frei, wie sie war, in ihren Entschlüssen, bleibt unsre Fraktion einzig an Rücksichten auf die Interessen der Partei, auf die großen Gesichtspunkte der Agitation gebunden. Und da diese eine Hinausschiebung der endgültigen Annahme des Wehrgesetzes jedenfalls erheischen, so hat unsre Fraktion gerade hier eine gute Gelegenheit, die Gegensätze der bürgerlichen Parteien zum Nutzen der Arbeitersache auszuspielen.

Würden unsre Genossen im Reichstag diesen Weg einschlagen, dann sehen wir in der jetzt eingetretenen Plenarverhandlung durchaus keinen Schaden. Im Gegenteil. Nach wochenlangen stillen Verhandlungen im Kämmerlein der Budgetkommission wäre die Wehrvorlage nun wieder für eine Zeitlang vor das breite Licht der Öffentlichkeit gezogen. Die

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