Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 66

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Das Marokkoabkommen im Reichstag

[1]

Leipzig, 13. November

Wenn man einen Teil der Presse – auch unsrer Parteipresse – liest, so möchte man beinahe glauben, daß mit der zweiten Rede des Herrn Bethmann Hollweg[2] eine neue Ära im politischen Leben Deutschlands herangebrochen wäre. Die paar Sätze des dürren Reichskanzlers gegen den Führer der Konservativen, diese „mutige und ehrliche Tat“, sollen eine Absage des herrschenden Systems an die nationalistische Kriegspolitik, an das Junkerregiment und Gott weiß, was noch alles, bedeuten. Leider mischt sich in diesen freudigen Triumphgesang mißtönend eine betrübende Erkenntnis. Wenn der Kanzler des Deutschen Reiches plötzlich einige abweisende Worte gegen den säbelrasselnden Ton der Junkerpartei gefunden hat, so ist für keinen Sterblichen innerhalb und außerhalb Deutschlands ein Geheimnis, aus welcher Quelle ihm der „Mut“ zu dieser Kundgebung zugeflossen ist: Sprach man doch ganz ungeniert im Reichstag und in der Presse davon, daß diese Frontwendung am vorhergegangenen Abend zwischen dem Herrn Bethmann und seinem kaiserlichen Herrn bei einem Hofsouper verabredet und beschlossen wurde. Es war in der Tat nichts anderes als die Ausführung eines kaiserlichen Auftrags, was durch den Mund des Reichskanzlers sprach, und sein „Mut“ gegen den Führer der Konservativen war der Mut eines Hoflakaien, der sich der Gunst seines Herrn vergewissert und dem sein Herr Schutz und Gnade gegen die ganze Welt zugesichert hatte. Braucht man sich doch nur der Sachlage im Reichstag am ersten Verhandlungstage zu erinnern. Da trat der Reichskanzler zur Verteidigung eines hochwichtigen Aktes der auswärtigen Politik auf, ohne daß eine einzige Partei der Volksvertretung

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[1] Siehe S. 10, Fußnote 1.

[2] Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg wandte sich am 10. November 1911 im Reichstag, nachdem er am 9. November die Debatte über das Marokkoabkommen mit Frankreich eröffnet hatte, gegen die scharfmacherische, gegen Frankreich und England gerichtete Rede des Führers der Konservativen Ernst von Heydebrand und der Lasa.