Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 191

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Der Maigedanke auf dem Vormarsch

Mitten unter den wildesten Orgien des Imperialismus wiederholt sich zum vierundzwanzigsten Male der Weltfeiertag des Proletariats. Es ist ein gewaltiges Stück geschichtlichen Weges, was in diesem Vierteljahrhundert seit dem epochemachenden Beschluß der Maifeier zurückgelegt worden ist. Als zum erstenmal die Maidemonstration ihren Einzug hielt, war die Vorhut der Internationale, die deutsche Arbeiterschaft, gerade daran, die Ketten eines schmachvollen Ausnahmegesetzes zu brechen und die Bahn einer freien gesetzlichen Entwicklung zu betreten. Die Periode der langen Depression auf dem Weltmarkt seit dem Krach der siebziger Jahre war überwunden, und die kapitalistische Wirtschaft trat just in eine Phase glänzenden Aufschwunges, der fast ein Jahrzehnt dauern sollte. Zugleich atmete die Welt nach zwanzig Jahren ununterbrochenen Friedens von den Erinnerungen der Kriegsperiode auf, in der das moderne europäische Staatensystem seine blutige Taufe empfangen hatte. Die Bahn schien frei für eine ruhige Kulturentwicklung, Illusionen, Hoffnungen auf eine schiedlich-friedliche Auseinandersetzung zwischen der Arbeit und dem Kapital schossen in den Reihen des Sozialismus üppig in die Halme. Vorschläge, „dem guten Willen die offene Hand“ entgegenzuhalten, bezeichneten den Beginn der neunziger Jahre, Verheißungen auf ein unmerkliches „allmähliches Hineinwachsen“ in den Sozialismus bezeichneten ihr Ende. Krisen, Kriege, Revolutionen sollten überwundene Standpunkte, Kinderschuhe der modernen Gesellschaft gewesen sein, Parlamentarismus und Gewerkschaften, Demokratie im Staate und Demokratie in der Fabrik sollten die Pforten zu einer neuen, besseren Ordnung eröffnen.

Der Gang der Dinge hat unter allen diesen Illusionen fürchterliche Musterung gehalten. An Stelle der verheißenen sanften sozialreformeri-

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